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Asche am Wegesrand

(c) Katarzyna Urbanek

Reglos liegt er da, der Körper dieses jungen Menschen. Die Gliedmaßen zerschmettert, überall Blut, das den leeren Parkplatz vor einem Büroturm benetzt oder in einem kleinen Rinnsal in die Kanalisation tröpfelt. Kein schönes Bild, wirklich nicht. Ein Anblick, an den sich ein Mensch wohl nie gewöhnen wird, gewöhnen kann, gewöhnen soll. Selbst nach 32 Jahren im Polizeidienst.

Ich ziehe an meiner Zigarette, kann den Blick nicht abwenden.

(c) Davide Ragusa

Ein junger Kollege tritt an mich heran. Seine Hände sind unruhig, scheinen nicht zu wissen, was sie mit sich anfangen sollen. Er räuspert sich, ich höre es kaum. Es braucht Willenskraft, eine bewusste Anstrengung, um meinen Blick auch nur kurz abzuwenden. Leicht neige ich meinen Kopf, blicke den nervösen Streifenpolizisten aus den Augenwinkeln an, gebe ihm zu verstehen, dass ich ihn bemerkt habe.

(c) Ian Espinosa

Männlich, kaukasischer Herkunft, vermutlich im Alter zwischen 16 und 20 Jahren. Der Beamte verharrt kurz, scheint froh zu sein, dass seine Stimme nicht bricht, neutral, teilnahmslos, eben professionell wirkt. Ich mustere kurz seine Gesichtszüge. Er ist mir fremd, hatte noch nie mit ihm gearbeitet. Seine Augen sehen müde aus, betroffen. Wahrscheinlich hatte er eben erst geschlafen. Vermutlich neben seiner Frau, die Kinder friedlich im Nebenzimmer, schlafend in ihren Betten. Vielleicht hob sein Hund kurz den Kopf, als das Diensttelefon klingelte, seinen Herren zum Dienst befahl. Muss schwer sein, denke ich mir. Das Private plötzlich zurückzulassen, um unvorbereitet in den Beruf zurückzukehren. Unfreiwillig wieder eintauchen, in die Ungewissheit der Nacht – nicht wissend, was einen da draußen auf den Straßen erwarten könnte. Die schreckliche Erleichterung, dass es keine laufende Schießerei, sondern nur ein Selbstmord ist. Einfacher Dienst nach Vorschrift.

Ich hatte nie eine Frau, nie Kinder, nie eine Familie. Auch heute denke ich mir, dass es so besser ist. Könnte nie klar denken, wenn ich wüsste, dass zuhause jemand auf mich wartet und möchte, dass ich ihm mein Herz ausschütte.

Dennoch fällt es mir schwer, mich in dieser Nacht, um knapp drei Uhr morgens von meinen Gedanken loszureißen. Die Personenbeschreibung hallt in meinem Kopf wider. Immer und immer wieder. Kein Entkommen von diesen wenigen Worten, die übrig bleiben, wenn sich ein Mensch entschließt, mit seinem Leben Schluss zu machen.

(c) Paul Wong

Ich schaue dem blauen Dunst zu, wie er im Licht der Straßenlaternen empor schwebt, der Dunkelheit des schwarzen Himmels entgegen.

Ob jemand den Vorfall beobachtet hat, frage ich den Kollegen, den Sturz, meine ich. Er verneint, keine Zeugen. Kein Ausweis, kein Abschiedsbrief. Die Traube von Menschen, die nun neugierig die Köpfe vorbei an den anderen Kollegen reckt, habe sich erst vor wenigen Minuten gebildet. Ich winke ab, als mich mein Nebenmann fragt, ob ich möchte, dass die Schaulustigen verscheucht werden.

Sollen sie nur schauen, denke ich mir. So etwas sieht man immerhin nicht alle Tage. Auch nicht als Staatsdiener. Mein Mund wird trocken, als ich daran denke, dass dieser junge Mensch vielleicht sein ganzes Leben lang nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit bekommen hatte, wie sie ihm nun, in diesem Moment Augenblick zuteil wird. Als Leiche ohne Namen, mit dem Gesicht nach unten liegend. Im Staub und Dreck dieser Stadt, die ihre Kinder frisst und die toten Leiber wieder ausspuckt – auf dass aus ihren Knochen ein Mahnmal für die anderen wird, sich niemals der Schwäche zu ergeben.

(c) Osman Rana

Achtlos schnippe ich meine Zigarette weg, suche in meinen Manteltaschen nach einer anderen. Das Aufflammen des Feuerzeugs blendet mich, kleine Sterne tanzen vor meinen Augen, verschwinden wieder. Was ich denke, fragt mich der Beamte. Vielleicht möchte er nur ihr entfliehen, dieser unangenehmen Stille zwischen uns.

Ich denke, dass  dieser junge Mann mein Sohn hätte sein können.

Das Kind, das ich freudestrahlend in meinen Armen gewiegt hätte, während es mir seine kleinen Fäuste entgegenstreckt. Hilflos, vielleicht noch namenlos – und für mich doch wertvoller als jeder Schatz, jede Beförderung, jede Anerkennung. Mit väterlichem Stolz hätte ich ihn aufwachsen sehen, mit ihm am Ufer eines Flusses sitzen können, beide mit einer Angelrute in der Hand. Hätte ihn angefeuert, als er mit verzwickt-konzentrierter Miene versucht, seinen ersten Fisch an Land zu holen. Hätte milde gelächelt, als er sich außer Stande sieht, sein Werk mit der blitzenden Klinge eines Messers zu Ende zu bringen. Hätte ihm gesagt, dass es in Ordnung ist, manchmal Gnade walten zu lassen, während ich den Arm um ihn lege und die Sonne blinzend hinter den Bergen verschwindet.

(c) Holger Link

Ob alles in Ordnung sei, fragt der junge Polizist schüchtern und nennt mich Herr Kommissar. Ich bejahe und sage ihm, was ich denke – dass es eine Tragödie ist. Nicht mehr und nicht weniger. Das letzte Echo, ein Schrei nach Hilfe, der achtlos und leise im Kosmos verhallt. Ein letztes Seufzen, als sich die Hoffnung noch einmal aufbäumt und dann für immer erlischt.

Er blickt betreten zu Boden, der Beamte, der sich einen Bart stehen lässt. Vermutlich um älter zu wirken, oder auch reifer, abgebrühter.

Ich biete ihm eine Zigarette an. Er zögert, nimmt sie aber. Ich gebe ihm Feuer, er bedankt sich. Für einen Moment halten wir beide inne und blicken stumm auf die Leiche, deren Arme und Beine in einem derart absurden Winkel abstehen, dass man am liebsten laut loslachen, oder eben gleich den Verstand verlieren möchte.

Vielleicht war es kein Selbstmord, vielleicht liegt wirklich ein Verbrechen vor, mutmaßt der Streifenpolizist und hustet mehrmals. Zweifellos, antworte ich, während ich den anderen Kollegen mit einem Handzeichen zu verstehen gebe, den Leichnam zu bedecken. Ein Verbrechen, ganz ohne jeden Zweifel. Doch lässt sich nicht die ganze Welt in Handschellen abführen.

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