unkreativ

Letzter Halt

(c) Charlotte_unsplash / jules

Schweißperlen suchten sich ihren Weg durch die Stirnfurchen und liefen sein Gesicht hinab, bis sie sich im Oberlippenbärtchen verfingen. Mit stechender Brust erreichte er in letzter Minute den Zug. Schnell fand er seinen Platz in der zweiten Klasse und legte die Tasche ab. Umständlich schälte er sich aus dem feuchten Trench, stopfte sein Hemd zurück in die Hose und ließ sich mit einem Seufzer am Fenster nieder. Mit dem Ärmel wischte er sich über die nasse Stirn. Wie seine Füße vor Hitze brannten. Sprints war er nicht mehr gewohnt. Zigarettenrauch und endlose Büroarbeit hatten das erfolgreich bewerkstelligt. Sanft stieß er mit dem Kopf an den Vordersitz, als sich der Zug in Bewegung setzte– die Schnürsenkel wehrten sich. Die Füße schließlich doch in klimatisierte Freiheit

(c) Rodion Kutsaev a7IVuJwYjp8 / Jules

gebracht, beobachtete er, wie sich draußen der Bahnhof in Hochgeschwindigkeit auflöste. Bald wich er einem braunen dämmrigen Landschaftsbrei aus Bäumen, der seinem Blick kein fixes Ziel mehr bot. Was für ein Tag. Forschend beobachtete er sein eigenes ernstes Augenpaar in der Fensterspiegelung. Er brauchte eine Weile, um das zweite Augenpaar zu bemerken, das sich vor dem Hintergrund des dunklen Tunnels in der Scheibe dazugesellt hatte. Unweit von ihm, auch ernst, möglicherweise leicht amüsiert – er war sich nicht sicher.

Das Augenpaar gehörte einer Dame, schwarz gekleidet soweit er sehen konnte – sie sah aus dem Fenster, aber ihr Gesicht spiegelte sich in ihrer Scheibe und warf das Bild undeutlich zurück in seine eigene: Schemenhaft konnte er eine fein geschnittene Nase ausmachen, geschwungene Brauen, den Ansatz feiner Lippen – zu wenig für ein genaues Bild, genug, um ihn neugierig zu machen. Plötzlich beschlich ihn das untrügliche Gefühl, dass ihn die Augen schon die ganze Zeit beobachtet hatten. Schlagartig war ihm seine chaotische Ankunft peinlich. Wie beiläufig strich er sich über das faltige Hemd und schlüpfte verstohlen wieder in seine Schuhe, während er unauffällig zu ihr hinüberschielte. Da waren ein Paar schwarze Stöckelschuhe, schlanke Knöchel, nusseisbraune Beine und ein kurzer schwarzer Rock, auf dem eine Hand lag, die zarten Finger elegant auf dem Oberschenkel drapiert.

(c) Melody Jacob / Jules

Er tat, als wühle er zerstreut in seiner Tasche. Mit einem schnellen Blick stellte er fest, dass die Hand tatsächlich zu einer gertenschlanken jungen Frau im schwarzen Business-Kostüm gehörte. Sie war auffallend elegant gekleidet, passend eher für die 1. Klasse, fand er. Ein Gürtel mit feinen Silbergliedern wand sich eng um ihre Taille, vor der ein modisches samtgrünes Täschchen mit irgendetwas Glänzendem baumelte. Leider hatte sie ihr Gesicht abgewandt. Es wurde von einem dieser neumodischen Hüte mit Krempe verdeckt, der nur Ausblick auf ein silbernes Ohrgehänge und lose Locken bot. Mit den erstbesten Zetteln in der Hand, die er greifen konnte, wandte er den Blick wieder angestrengt nach vorn und schielte probehalber Richtung Fenster.

Die Augen blickten ihn nicht mehr an, obwohl es ihm schien, als hätten sie es eben noch getan. Lächerlich. Vor fünfundzwanzig Jahren vielleicht, da er hätte er noch…aber heute? Er bemühte sich, seine Konzentration auf die Zahlenkolonnen zu lenken. Die Bilanz zeigt eindeutig, wie…wie wohl ihr Gesicht aus der Nähe aussehen mochte. Die Toilette lag dummerweise in die entgegengesetzte Richtung, sonst könnte er… Nonsens. Ob der Speisewagen vielleicht…?

„Fahrkarten bitte,“ forderte eine Stimme neben ihm fast zärtlich.

Der Schaffner schien plötzlich aus dem Boden gewachsen. Er wandte ihm den Rücken zu und verbaute ihm den Blick auf die junge Frau. Es knipste leise.

„Vielen Dank. Wissen Sie, Ihr Gepäck nimmt eine Menge Platz in Anspruch…soll ich es nicht lieber hier oben im Gepäckfach verstauen?“

Tatsächlich hatte die Dame noch einen Koffer und zwei Taschen bei sich – allesamt von demselben eigentümlichen grün wie das kleine Täschchen. Irgendwie erinnerte die Farbe an satte nordische Tannenwälder.

„Das ist sehr freundlich, aber nicht nötig,“ tönte eine samtig sommerwarme Stimme hinter dem Schaffner hervor, die einem wohl alles Mögliche versprechen konnte, solange sie ihren Willen bekam.

Dem Schaffner blieb nur höflich zu grüßen. Dann schwenkte er abrupt zur Seite: „Tasche ins Fach!“ bellte er mit zitterndem Schnurrbart einen Teenager an, der gedankenverloren auf seinem Zungenpiercing herumkaute, und rauschte den Gang hinunter davon, die Schwingtüre am Ende des Wagons fast aus den Angeln hebend.

(c) Luke Braswell / Jules

Die Frau blickte dem Schaffner nach, ohne jede Regung. Dann waren ihre Augen plötzlich da, dunkel unter geschwungenen Brauen, zweifellos im Klaren darüber, was sie mit einem Buchhalterherz anstellten, das lange nicht herausgefordert worden war. Sie musterte ihn abschätzend. Er wollte nicht starren und konnte doch nicht wegschauen. Die vollen Lippen in dem fein geschnittenen Gesicht, wie mit dem Pinsel bemalt in einem dunklen, unaufdringlichen Rot lagen entspannt aufeinander. Sie lächelten nicht…

…und doch hatte das Spiegelbild nicht zu viel versprochen. Mit einem Mal war ihm, als flösse warmes Öl durch seine Eingeweide. Einen Moment lang hielt er den Atem an. Dann sah sie wieder aus dem Fenster, kühl und unnahbar, als hätte es ihn nie gegeben. Er seufzte. Wie bekannt war ihm diese Haltung. Carolin war klein gewesen, aber wunderbar kurvenreich, rubinroter Haarschopf…und darunter ein messerscharfer Verstand, der sein Selbstwertgefühl regelmäßig so mühelos tranchiert hatte wie geschliffene Klingen ein Fischfilet. Doch hatte er sie geliebt und  wusste aus Erfahrung, dass sich hinter einer kalten Schulter oft nur Unsicherheit verbarg.

Noch im Streit mit sich, ob er etwas sagen sollte, kramte er nach seinem Tablet. Er musste es in der Eile vergessen haben, blätterte wieder durch die Unterlagen, schaffte es schließlich zu lesen. Sie schien ohnehin das Interesse verloren zu haben, oder…Himmel, nein, er hielt es nicht aus. Doch ehe er sich die richtigen Worte zurechtlegen konnte, schwang die Wagontür hinter ihm mit einem Schmatz auf. Ein Knurren zerriss das surrende Zuggeräusch.

„Ganz ruhig, Aikan“,

befahl ein Männerbariton leise, aber durchdringend. Eine schnüffelnde Schnauze kam ihrer Sitzreihe schnell näher, gefolgt von einem jungen Mann. Der Buchhalter hatte einige Polizisten mit ihren Hunden bereits auf dem Bahnsteig ihres vorigen Halts erspäht. Kein seltener Anblick in diesen Zeiten. Als der Hund ihre Sitze erreichte, bellte der vernehmlich und nahm die Frau ins Visier. Diese zuckte bewundernswerterweise nicht einmal mit der Wimper, nur ihre Hand umklammerte die Handtasche eine Spur fester, als mache sie sich bereit zum Zuschlagen, sollte das fellige Ungetüm zudringlich werden. „Es tut mir aufrichtig Leid, bitte entschuldigen Sie,“ stammelte der offenkundig unerfahrene Polizist erschrocken und riss den Hund zurück. Es kostete ihn alle Kraft.

(c) Josephine Amalie Paysen / Jules

„Wir haben heute Anweisung alle Schnellzüge genauer zu prüfen, auf verdächtige Personen und Objekte,“ erklärte er umständlich. „Ich meine, natürlich nicht, dass Sie verdächtig wären“ korrigierte er sich schnell beim Anblick der kunstvollen Tasche in ihren Händen, die alleine schon sein Monatsgehalt toppen mochte, von ihrer Kleidung ganz zu schweigen. Die Dame schenkte dem verlegenen Mann ein so strahlendes Lächeln, dass er den Köter auf der Stelle verwünschte, aber dieser ließ nicht davon ab wie verrückt an der Leine zu zerren. Er seufzte. „Tut mir Leid, ich…also der Hund ist so aufgeregt, vielleicht würde er sich beruhigen, wenn er sich selbst davon überzeugen dürfte, dass er hier nichts…ich meine – es würde Ihnen doch sicherlich nichts ausmachen, wenn ich trotzdem einen Blick riskiere?“ Er streckte die Finger nach der Handtasche aus. Die junge Frau lächelte ihn immer noch an, eine Augenbraue leicht in die Höhe gezogen. „Nur eine reine Formsache, verstehen Sie?“  Einen Moment lang herrschte Stille. „Natürlich,“ meinte sie dann nur. Vorsichtig zog sie die hauchdünnen Taschenriemen über den Kopf, um nicht an ihrem Ohrschmuck hängen zu bleiben.

„Hier“, sie streckte sie ihm hin. Der Polizist fühlte sich sichtlich unwohl, die Leute schauten bereits. Was mache ich da eigentlich, fragten seine gerunzelten Brauen. Trotzdem griff er zu, wog die Tasche einen Moment in seiner Hand, strich flüchtig über den glänzenden Stein. Es war offenbar ein Insekt, vielleicht eine Libelle, die wohl irgendeinen modischen Schließmechanismus verbergen mochte. Die Frau musterte den Beamten abwartend aus ihren kühlen, dunklen Augen. Einen Moment lang war es totenstill im Wagon.

(c) Fred Moon / Jules

Auf dem Gesicht des Polizisten fochten Pflichtbewusstsein und Galanterie einen stillen Kampf. „Ein kunstvolles Stück,“ murmelte er schließlich mit Seitenblick auf die neugierig schauenden Passagiere und gab ihr die Tasche zurück. „Alles in Ordnung. Komm,“ befahl er dem Hund, der dem festen Zug an der Leine mit einigem Winseln nachgeben musste, zumal der massige Kaffeewagen schon näher rollte und die beiden aus dem Wagon drängte. „Kaffee, Tee, Wein?“ fragte der Steward mit Blick über seine modische Brille hinweg.

Die Dame bestellte zwei Cappuccini. Als der Wagen weitergezogen war, hielt sie dem Buchhalter einen hin. Er ließ die Unterlagen sinken und nahm ihn entgegen. „Danke, sehr freundlich.“ Sie lächelte als wolle sie sich für die Störung eben entschuldigen. Kurz war ihm, als wäre sogar Bedauern in ihrem Blick aufgeflammt, aber die Augen sahen schon wieder aus dem Fenster, während die Lippen sachte am dampfenden Kaffee nippten. Er setzte sich wieder, verwirrt, was er von der Geste halten sollte. Unauffällig behielt er die Fensterspiegelung im Auge, doch ihr Blick streifte ihn nicht mehr.

(c) Y.Cai / Jules

Eine Weile las er in seinen Unterlagen, dann bemerkte er doch eine Bewegung im Augenwinkel. Die Frau saß nicht mehr an ihrem Platz. Dann spürte er eine Hand auf seiner Schulter.  Der Schreck durchfuhr ihn wie ein Schlag. Er fuhr herum. Da ließ sie sich neben ihm nieder, ohne jede Hast, entschuldigend lächelnd wie vorhin, ohne ein Wort. Sie saß da, die Tasche in ihrem Schoß, legte seine Unterlagen beiseite und schaute ihn nur lange an. Er roch ihr Parfum. Nicht süß, eher frisch, wie ein Wintermorgen dachte er. Dann fühlte er ihre kühle schmale Hand auf seiner linken Wange, ihre Lippen kamen ihm so nah, dass er glaubte, sie müssten ihn jeden Moment berühren. Für einen Augenblick war er wie erstarrt. „Entschuldigen Sie,“ flüsterte sie ihm ins Ohr, „bitte entschuldigen Sie“. Plötzlich fasste sie ihn hart an der Schulter. „Entschuldigen Sie!“ Er blickte auf eine faltige Hand. „Ihr Ticket bitte,“ flötete die Schaffnerin. Er blickte sich verwirrt um. Die Beamtin trug eine andere Uniform als der Beamte vorhin, sie mussten bereits die Grenze passiert haben. Draußen zog der Abend herauf. Er schielte nach rechts. Die Dame war verschwunden. Umständlich fingerte er sein Ticket hervor.  „Wo sind wir?“

(c) Mateo Broquedis

„Wir fahren bald in den Hauptbahnhof ein, vorher gibt es keine Station mehr – hätten Sie aussteigen müssen?“ „Nein, nein alles gut. Vielen Dank.“ Bevor er allerdings fragen konnte, wie lange er geschlafen hatte, bedeutete die Schaffnerin dem jungen Lümmel mit dem Piercing unwirsch mitzukommen und schob ihn aus dem Wagon. Tz, Schwarzfahrer, hörte er sie noch schnauben. Er stand auf und schlüpfte in seinen Trench. Wieder blickte er auf den leeren Sitzplatz schräg gegenüber im mittlerweile fast leeren Wagon. Da bemerkte er ein Glänzen. Er näherte sich und sah das Täschchen liegen. Es war tatsächlich eine Libelle darauf, die Strasssteinchen funkelten im Licht. Die junge Dame muss es vergessen haben. Das restliche Gepäck war weg. Er nahm die Tasche in die Hand und überlegte, wo sie ausgestiegen sein könnte. Vielleicht hatte sie Ausweise oder Karten in der Tasche. Dann hätte er vielleicht einen Anhaltspunkt, wohin sie unterwegs war. Er strich über die Libelle und kam sich dabei vor wie ein Einbrecher, der fremdes Eigentum entweiht. Besser nicht öffnen. Wie lange sie wohl schon weg war? Die wenigen Passagiere rundherum dösten oder waren in ihre Smartphones vertieft – sie würden ihm keine Auskunft geben können. Sein Blick fiel auf den fast leeren Kaffeebecher. Er hob ihn auf. Der Kaffee war noch warm…

und wenn sie noch im Zug war?

Möglicherweise hatte sie sich in den Speisewagen gesetzt und ihre Sachen mitgenommen, weil er geschlafen hatte. Seltsam, dass er nach dem starken Gebräu überhaupt eingeschlafen war – das war ihm noch nie passiert. „Sehr geehrte Fahrgäste. Wir erreichen den Hauptbahnhof in Kürze.“ Tatsächlich zogen bereits die ersten Häuser der Randbezirke draußen vorbei. Er schulterte kurzerhand seine Tasche, nahm das Täschchen in die Linke und stürzte durch die Flügeltür. Links und rechts spähend ging er zügig durch den nächsten ellenlangen, wesentlich volleren Wagon. Im Vorbeilaufen war ihm, als hätte er eine tannengrüne Reisetasche auf einer der Ablagen gesehen. Ein schneller Blick zurück bestätigte ihm, dass die Tasche wohl ähnlich sein mochte, wie jene, die sie dabei gehabt hatte. Die Frau war allerdings nirgends zu entdecken. Er hastete weiter in den Speisewagon und rannte dabei fast die Kellner über den Haufen, die vor der Ankunft noch hastig kassieren wollten. Ein älteres Ehepaar musterte ihn vorwurfsvoll. Er zwängte sich an einigen asiatischen Touristen vorbei und schlängelte sich durch die Gruppe Jugendlicher, die an den Abfallkübeln die Reste ihrer Kaffeebecher und Chips-Packungen entsorgten.

Fast wäre er in etwas gestiegen, das wie verschüttete Gulaschsoße aussah. Grundgütiger…Als er durch die Tür des zweiten Klasse Wagons brach, standen viele der Passagiere bereits im Gang herum, zogen sich an, checkten noch was am Smartphone und fingerten ihre Gepäckstücke aus allen möglichen Stauräumen.

(c) hugh-han-5pkYWUDDthQ / Jules

Umständlich zwängte er sich hindurch, während er seinen Hals reckte, um besser nach vorn sehen zu können und seinen Kopf wie ein Pendel hin- und herschwingen ließ. Da ging ein Ruck durch seine Schulter, der ihn fast zu Boden gerissen hätte. Seine Umhängetasche hatte sich an einer Armlehne verfangen. Als er den Riemen endlich losbekommen hatte, stach ihm im Ablagefach daneben wieder eine grüne Tasche ins Auge. Sie war auch von diesem eigentümlichen grün. Konnte das sein? Dasselbe Modell noch einmal wäre doch ein sonderbarer Zufall. Andererseits, was wusste er schon von Modetrends. Sein Mantel hätte in den 70ern genauso gut irgendwo am Filmset von Columbo hängen können. Um die Tasche schien sich jedenfalls keiner zu kümmern. Im allgemeinen Gewimmel will das allerdings nichts heißen. Von der Frau war aber nichts zu sehen. Jetzt mach dich nicht verrückt, mahnte er sich, wieso sollte sie ihr Gepäck zurücklassen? Unsinn! „Müssen Sie hier im Weg rumstehen?“, schimpfte eine Passagierin, die eilig an ihrem Koffer zerrte. Er murmelte eine Entschuldigung und strebte dem erste Klasse Türschild zu. „Unser nächstes Ziel: Hauptbahnhof,“ meldete die Ansagestimme.

Aber was, wenn es kein Zufall war…

Dann müsste doch… Ungestüm stieß er die nächste Flügeltür auf. Seine Augen fanden ihn fast sofort, jetzt da sie wussten, wonach sie suchten. Ein grüner Koffer steckte am Ende des Ganges in einem der Ablagefächer. Was war hier los, verflucht nochmal! Wendiger, als er sich`s zugetraut hätte, wich er einem Ellenbogen aus und drückte sich an den herumwerkelnden Passagieren vorbei. Es war der Koffer, musste es sein, kein Zweifel. Irgendetwas stimmte da nicht. Kurzerhand hievte er ihn aus seiner Ablage. Er war verschlossen. Hastig suchte er im Gedränge der Passagiere nach einem Schild, einer Plakette am Koffer, irgendwas. „Entschuldigung, wissen Sie, wem dieser Koffer gehört?!“, fuhr er den verdutzten Mann neben ihm an. „Was?“ „Der Koffer, wissen Sie wem er gehört?! War eine Frau da, schlank, schwarz gekleidet, Hut…“ „Nein, keine Ahnung, ich weiß nicht…“ Er drehte sich einmal um die eigene Achse. „Gehört irgendjemandem hier dieser Koffer!“ schrie er durch den Wagon, aber kaum einer hörte ihn im allgemeinen Ankunftstumult. „Hauptbahnhof. Bitte vergewissern Sie sich, dass Sie alle persönlichen Gegenstände dabeihaben. Bitte lassen Sie keine Gepäckstücke unbeaufsichtigt.“ Er ließ den Koffer fallen.

Sie musste noch da sein!

Er drängelte sich grob vorbei, rannte ins nächste Abteil. Zweite Klasse. Wie viele Wagons konnte der Zug nur haben? „Die nächsten Anschlussmöglichkeiten sind…“ „Entschuldigung, darf ich bitte durch, entschuldigung…haben Sie eine Frau gesehen, hübsch, großer Hut, schwarz gekleidet, bitte, sie muss hier durchgekommen sein….“ Die Passagiere standen bereits Schlange vor dem Ausgang. Ein Meer von Köpfen, säuberlich aufgereiht und viel Gepäck dazwischen. Schon ließ er in müder Ergebenheit die Schultern hängen, da entdeckte er eine schwarze Hutkrempe im Getümmel nahe der Tür, etwa 50 Meter von sich entfernt – und kurz aufblitzend ein silbernes Ohrgehänge.

(c) Tamara Bellis / Jules

„Lassen Sie mich durch! Entschuldigung!“ schrie er, „Warten Sie! …Ich habe ihre Tasche!“, schrie er so laut er konnte, „ihre Tasche!“ Die Frau streifte kurz seinen Blick und erstarrte. Hatte sie ihn gesehen? Schnell drehte sie sich um. Die Türen piepten, bereit sich zu öffnen.

Sie wollte nach draußen, allerdings klemmte einer der Flügel und eine ältere Dame blockierte wohl mit zwei klobigen Koffern den Weg. Er legte einen Zahn zu und drängelte sich unter viel Gezeter der Passagiere durch den Gang. „Sie haben ihre Tasche vergessen!“ schrie er nochmals und wedelte damit ober seinem Kopf herum. Er deutet mit dem Zeigefinger nach hinten.

„Sie!!“ rief er.

Einige Passagiere drehten sich zur Dame um, die immer verzweifelter versuchte aus der Tür zu kommen. Schon griffen erste Hände nach ihr – in allerbester Absicht. „Warten Sie doch, haben Sie nicht gehört?…“ Einige Passagiere verstellten ihr den Weg und deuteten aufgeregt nach hinten. Da schepperte der eine verkeilte Koffer in der Tür nach draußen. Es kam Bewegung in die Menge. Der Buchhalter drückte die Passagiere ungestüm zur Seite, stürzte auf die Tür zu. Ein älterer Mann drehte die Dame an der Schulter zu ihm um. Sie wehrte sich, schaute ihm dann aber doch ins Gesicht, kalkweiß um die Nase, sah sie ihm mit weit aufgerissenen Augen entgegen. Ihm – oder vielmehr dem Accessoire in seiner Hand. Unwillkürlich verlangsamte er seinen Schritt. Verunsichert schaute er auf das Täschchen, dann wieder zu ihr. Sie schüttelte nur panisch den Kopf, versuchte sich von den Passagieren loszumachen und nach draußen zu drängen. Da blieb er stehen. Inmitten der zeternden Passagiere sah er in ihre vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen. Wie von selbst fasste seine Hand an den Libellenflügel auf dem Taschendeckel und zog daran. Leise, kaum hörbar machte es klick.

(c) Dustin Humes / Jules

Leave a Response