Die Straßen der heutigen Städte sind so finster und schmutzig wie die Seelen, die sich in den winzigen Wohnungen der Hochhäuser von ihrem tristen Schicksal zwischen Lohnsklaverei und Konsumpflicht zu erholen versuchen. Für einen Moment verharre ich, versuche dem Rausch des Weines durch meine Adern nachzuspüren. Regentropfen hinterlassen ihre Spuren auf meinen Wangen, als ich den Blick in die endlose Finsternis über mir richte, wo vor langer Zeit noch die Sterne die Menschen zur Demut mahnten. Ich schmecke die leichte Säuerlichkeit, als der Regen stärker wird und sanft meine Lippen benetzt. Eines Tages werden der Staub der Fabriken, der Schmutz des Wohlstandes diesen uralten Wächter der Reinheit und des Neubeginns endgültig korrumpiert haben. Bis dahin bleibt der Regen aber einer der letzten Boten der Frische in einer sterbenden Welt, wäscht die Wunden der Ausgestoßenen und nimmt die Tränen der Hoffnungslosen in sich auf. Zumindest ich werde ihn vermissen.
Nichts ist geblieben in diesem 21. Jahrhundert. Ein ständiger Wettkampf in einer entzauberten Welt, die Wunder und Rätsel wurden ans Licht gezerrt, die Angst ist geblieben. Die Frage nach dem Danach bleibt ungeklärt, als Stachel im Fleisch der Vergnügungssüchtigen und Ziellosen. Immerhin könnte sich die eigene Eitelkeit, das eigene, schale Leben eines Tages rächen. Dabei möchte man doch alles haben und nichts unversucht lassen, ohne auf glänzende Zukunftsperspektiven im Zeichen des Ungewissen verzichten zu müssen.
Tatsächlich muss der Tod aber nicht das Ende sein.
Dies mag vielleicht nach einer esoterische Beruhigungspille klingen, doch ich weiß, wovon ich rede. Dutzende, vielleicht sogar hunderte Leben habe ich bisher leben müssen, so viele, dass ich längst mit dem Zählen aufgehört habe. Doch kann ich mich an jedes einzelne dieser Leben erinnern, an jedes Vergnügen, jede Stunde der Langeweile, jegliche Lust und jeglichen Schmerz. Oft endete meine jeweilige Existenz qualvoll, doch begegnete ich dem Tod zumeist mit Gelassenheit, wie einem alten Freund, dessen Rückkehr man schon lange herbeigesehnt hatte. Als wirklich quälend hatte ich stets nur das Enden der Kindheit empfunden, der Verlust der Unschuld, die Last der Erinnerung.
Ich schlinge meinen Mantel enger um mich, verberge Mund und Nase hinter einem Schal, der noch nicht lange mir gehört. Der Wind heult und es ist kalt, doch ist es für inmitten eines Winter auch wieder erstaunlich mild. Seit Jahrzehnten scheine ich und diese Welt keinen wirklichen Winter mit all seinem Zauber, aber auch all seinen Ärgernissen erlebt zu haben. Aber auch wenn die kalte Jahreszeit mit Frost und Hunger den Bewohnern dieser makellosen Welt meist nur noch ein müdes Lächeln abringt – wenn der Tau sich morgens an das noch verschlafene Gras schmiegt, brennt selbst in den Herzen der schrecklichsten Hyänen in ihrem Streben nach Selbstverwirklichung das Bedürfnis nach Zweisamkeit.
Bei einem kurzen Zusammentreffen soll es jedoch bleiben, kommt es doch heute, unter dieser Meute voller Individualisten, nur noch selten zu mehr als einem kurzen Strohfeuer, das den langsamen Niedergang unseres verfluchten Geschlechts in die uneingeschränkte Gefühllosigkeit und gemeinsame Einsamkeit kaum zu kaschieren vermag.
Langsam lasse ich den Stadtkern hinter mir, den die braven Bürger gerne Downtown nennen, um die eigene Borniertheit zu verbergen. Sonst verdiene ich mein Geld in den Bars und Nachtlokalen, indem ich vor selbstgerechten Raubtieren in Maßanzügen von Zuneigung und Gerechtigkeit singe, während sie bei verwässertem Bier von Luxus, Macht und Anerkennung träumen. Auch ich selbst suche häufig das Glück im Glas, überhaupt bin ich dem Alkohol seit Unzeiten recht zugetan, wie ich gestehen muss. Mein Körper und Geist mögen bereits von diesem angenehmen Gefühl der Taubheit erfüllt sein, trotzdem zieht die schäbige Leuchtreklame einer abgehalfterten Unterschichtkneipe meinen Blick auf sich. Während meines ersten, echten Lebens flehten die Menschen ein ganzes Pantheon von Göttern um Gnade an. Sie erbauten Tempel im Schweiße ihres Angesichts, warfen sich in den Staub, nur um vielleicht einen winzigen Funken Göttlichkeit erhaschen zu können. Später war es in den meisten Kulturen nur noch eine himmlische Gestalt, der man Ehrfurcht und Opfer darbrachte. Doch auch diese Gebieter sind mittlerweile vergessen, werden nur noch an Feiertagen hervorgekramt – der guten, alten Zeiten wegen, möchte man meinen.
Geblieben sind die neuen Erlöser, die Neonschilder mit ihren flimmernden Verheißungen.
Flüsternd rät dieses Exemplar in grellen, unnatürlichen Rot-, Grün- und Blautönen zur Einkehr – sei es auch nur, um sich ein wenig mehr Mut anzutrinken. Unbewusst zählen meine Finger geschickt das verbliebene Kleingeld in der Dunkelheit meiner Manteltaschen, ehe ich mich darauf besinne, eigentlich in Eile zu sein. Denn ich habe ein Ziel vor Augen, das mich ebenso anzieht, wie es mir davor graut.
Der Grund, warum ich den Niedergang von Pompeji und Konstantinopel miterlebt, das Blut der Kreuzzüge an den Händen kleben und vergessene Symphonien in den Ohren habe, ist eine Frau.
Eine Frau voll Liebreiz, der ich die Liebe geschworen habe und in die Unterwelt gefolgt bin – und die Frau, die ich ebenso unendlich enttäuscht habe mit meiner Furcht, meinem Versagen. Auch sie kehrt von Zyklus zu Zyklus wieder und ist verdammt, mir immer wieder aufs Neue zu begegnen. Das Schicksal mag einen grausamen Sinn für Humor besitzen, doch zumindest bleibt der einstigen Nymphe, für jene ich damals bei fahlem Mondlicht, in den Olivenhainen meiner Heimat das eigene Leben verwarf, das Erinnern erspart.
Diesmal hat es beinahe vier Jahrzehnte gebraucht, doch ich habe sie erneut gefunden.
Die Neugier ist es gewesen, die mich in die dunkelsten Ecken des Sumpfes gelockt hatte, in dem die Menschen ihre Verzweiflung zu ertränken versuchen –
den Sumpf, den unsere gepeinigte Spezies Internet nennt.
Beinahe hätte ich mich von diesem abscheulichen Reigen aus Wollust und Erniedrigung in die Flucht schlagen lassen, als ich das Seufzen der Verzückung wiedererkannte, welches ich nie aus meinen Hirnwindungen verbannen konnte. Erstarrt hatte ich das Schauspiel auf dem Bildschirm beobachtet, gebannt von den unvergesslichen Klängen, die atemlos von meiner ewigen Geliebten hervorgestoßen wurden. Früher waren ihre Haare blond, ihre Augen grün gewesen. Heute sind beide schwarz. Ein Schwarz, das sämtliches Licht verschlingt.
Esther – ein anderer Name als der, unter dem ich ihre Anmut einst kannte. Dafür ist es erstaunlich einfach gewesen, ihre Adresse herauszufinden. Genügend Kreaturen tummeln sich in den virtuellen Abgründen, so furchterregend fähig, wie sie gierig sind. Meine Ersparnisse sind glücklicherweise dank selbst gewählter Askese beachtlich, Geiz oder gar Zögern blieben so unnötig. Wie es das Schicksal will, befindet sich ihre Wohnung nicht weit von meiner eigenen entfernt. Wir beide sind Gefangene dieser Großstadt, in der ich aufgewachsen bin und in der ich heute noch lebe.
Tief versunken in Gedanken wäre ich beinahe weitergegangen, als ich die heruntergekommene Mietbaracke erreiche, deren Standort mir ein Unbekannter für eine stolze Summe mitgeteilt hatte. Interessiert studiere ich die Namen, die in unterschiedlichsten Handschriften neben kleinen, früher weißen, nun gelblichen Knöpfen stehen. Die Eingangstür selbst ist versperrt. Da es spät am Abend ist und ich ohnehin weiß, in welchem Stockwerk Esther lebt, entscheide ich mich gegen ein höfliches Klingeln und verschwinde im Schatten eines gegenüberliegenden Hauseingangs.
Lange hatte ich nicht warten müssen, ehe eine stark geschminkte Frau aus dem Mietshaus tritt und mir empört nachblickt, nachdem ich flink an ihr vorbei gehuscht bin. Ungeduld ergreift mein Herz, ich nehme zwei, dann drei Stufen auf einmal, bis ich im vierten und letzten Stock angekommen bin. Zwei Türen, an keiner von ihnen prangt ein Namensschild. Ich überlege kurz, ein Instinkt rät mir, jene Tür zu wählen, hinter der leise Musik erklingt. Viel zu leise, um sicher zu sein, doch glaube ich, ein langsames, schwerfälliges Klavierstück zu hören.
Ich klopfe, zunächst sachte, dann bestimmt. Mein Puls rast, das Rauschen von Blut in meinen Ohren trübt meinen Blick, droht gar, mir das Gleichgewicht zu rauben. Mit meinen Händen suche ich Halt an der Mauer, warte auf das dumpfe Geräusch von Schritten, starre angespannt auf den Knauf aus zerkratztem Messing. Die Tür öffnet sich, zunächst nur einen Spalt. Bekannte Augen kreuzen meinen Blick und weiten sich vor Schreck, als ich mit vollem Körpereinsatz die Tür aufzwänge und mich hineindränge. Ein Schrei wird erstickt von meiner Hand auf ihrem Mund.
Es schmerzt, als ich die Furcht in ihren Augen sehe. Eine empörte Anklage, zu der mir keine Verteidigung einfällt, doch es muss sein, es gibt keinen anderen Weg. Ein Schrei könnte die Nachbarn auf den Plan rufen, alles zerstören. Bevor ich die Tür mit einem sanften Tritt schließe, schaue ich mich um. Eine kleine Wohnung ist es, in der Esther lebt, mit nur einem Zimmer, wenn man von der Tür absieht, hinter der sich wohl die hygienischen Einrichtungen verbergen. Wahrscheinlich lebt sie allein, denn es gibt keine Hinweise auf Mitbewohner. Keine Kleidung, keine Schuhe, die von einem Mann stammen könnten.
Ich raune Esther zu, dass ich ihr nichts tun werde – sofern sie keinen Widerstand leistet.
Sie müsse mir lediglich versprechen, mich anzuhören, wenn ich meine Hand von ihren Lippen nehme, dann wird ihr nichts geschehen Sie nickt, scheint mich verstanden zu haben. Als ich sie freilasse, taumelt sie einige Schritte zurück, drängt sich an die Wand, bleibt aber still. Ich bleibe stehen, zeige ihr meine leeren Hände als ein Zeichen, nichts Böses zu wollen. Ihr Atem wird langsamer, doch die Furcht in diesen dunklen Augen bleibt. Eigentlich sollte ich etwas sagen, immerhin habe ich unzählige Stunden damit verbracht, mir diesen Moment auszumalen. Doch nun, als es endlich so weit ist, fühle ich mich verloren, weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ein hoher Ohrensessel streift meinen Blick. Ich frage Esther, ob ich mich setzen darf. Sie wirkt verwirrt und bleibt eine Antwort schuldig, so lasse ich mich einfach nieder und streife über den abgewetzten Stoff der Armlehnen, um das Zittern meiner Hände zu verbergen. Mein Mund ist trocken, als ich Esther frage, ob sie mich möglicherweise wieder erkennt. Sie schüttelt den Kopf, wirkt aber entspannter.
Ich seufze und erkläre, dass ich sie kenne, schon seit Jahrhunderten und niemals vergessen konnte.
Sie sagt kein Wort, als ich ihr von unserem ersten Zusammentreffen erzähle, als ich für sie gesungen hatte, Tag und Nacht, bis sie es wohl nicht mehr hören konnte. Zögerlich teilte ich meine Erinnerungen an den missratenen Sohn eines Sonnengottes, der ihr einst nachstellte, bis der Biss einer kleinen Natter ihr das Leben raubte. Wie ich mich in meiner Naivität aufmachte, die Tore zur Unterwelt zu finden, deren dreiköpfigen Wächter überwinden und die Gattin des Herrn der Toten überzeugen konnte, mir das Verlorene wiederzugeben, für das ich gekommen war – unter der Bedingung, nicht zurückzublicken, bis ich wieder das Licht der Sonne auf der Haut spüren konnte. Eine unfassbare Gnade, die mir zuteil wurde, und eine einfache Aufgabe, der ich nicht gerecht wurde. Denn weder konnte ich ihren Atem hören, noch die Wärme ihrer Hand in meiner spüren – von der Frau, die ich damals unter dem Namen Eurydike kannte. Zweifel umklammerten fest mein Herz, ließen mich töricht zurückblicken, nur um das zu sehen, was ich soeben wieder verloren hatte. Doch diesmal nicht aus grausamer Fügung, sondern aus eigener Schwäche.
Ich habe lange gesprochen, doch nun zögere ich. Ich wage es nicht, Esther von dem Fluch zu erzählen, der seit meiner Schande auf uns beiden lastet. Immer noch hatte sie kein Wort gesagt, nur ihren Blick zu Boden gerichtet. Vielleicht sollte ich gehen, es sein und einfach los lassen, doch ich vermag es nicht. Ich hebe wieder an, spreche aber nicht von einem Fluch, sondern nur von den vielen Leben, in denen wir wieder für kurze Zeit zueinander fanden. Leben, in denen ich als römischer Eroberer um das Herz einer Pharaonin warb, oder als Jüngling vor ihrem Balkon in Verona stand. Mit keinem Wort erwähne ich das jeweilige tragische Ende, hasse mich selbst für meine unendliche Feigheit. Lieber romantisiere ich weitere Zusammentreffen, wie etwa vor nicht allzu langer Zeit, als wir zusammen Banken ausraubten und das ganze Land in Atem hielten.
Es hätte noch viele Geschichten gegeben, doch zum ersten Mal blickt mir Esther in die Augen und gebietet mir zu schweigen. Ihre anfängliche Furcht scheint endgültig von ihr abgefallen zu sein, mit unendlicher Grazie tritt sie an das einzige Fenster, verharrt für einen Moment und zieht anschließend die Vorhänge zu.
Ich höre ein tiefes Einatmen und zum ersten Mal ihre Stimme. Sie erinnere sich, sagt sie langsam, und nennt mich Orpheus. Ein Name, den ich nicht mehr gehört habe, seit mir eine wütende Meute berauschter Weibsbilder den Kopf von den Schultern riss und in den Fluss warf, auf dass er in meine Heimatstadt zurückkehre. Doch selbst damals war mir nicht so kalt und bange um das Herz, wie jetzt, in diesem Moment. Es liegt keine Zuneigung in ihrer Stimme, keine Freude, keine Wärme – nur Enttäuschung und Resignation. Mein Denken liegt auf Eis, voller Einfalt wiederhole ich lautlos ihre Worte, immer und immer wieder.
Esther tritt vom Fenster zurück, quert langsam den Raum. Sie bleibt vor mir stehen, geht in die Knie und blickt mir zum ersten Mal ins Gesicht. Tatsächlich berührt sie sogar meine Hände, doch nur aus Mitleid. Ich müsse sie gehen lassen, sagt sie leise, sonst werde es nie aufhören. Wir würden uns immer wieder finden, nur um später wieder getrennt zu werden. Sie verzeihe mir, für mein Wanken inmitten der Wasser des Styx. Doch nun lasse sie mich gehen und ich müsse dasselbe tun.
Ich streife ihre Hände von mir und stehe auf. Es herrscht Chaos in meinen Gedanken und ich stürme hinaus, die Treppen hinunter, bis eiskalte Luft endlich meine Lungen füllt. Was war eben passiert? Ich hätte mit allem umgehen können, mit Unglauben, geworfenen Gegenständen, gar mit blankem Hass. Doch diese Kälte, diese Distanz reißen mir die Seele aus der Brust.
Nein, ich werde nicht vergessen, werde nicht los und sie nicht ziehen lassen. Es ist niemals vorbei, es darf niemals vorbei sein. Es muss weitergehen – doch wie? Das hängt davon ab – ob ich zuerst auf einen Schnaps- oder doch auf einen Waffenladen treffe, wenn ich dieser dunklen Straße folge.