unveröffentlicht

Der Tod des Mallarde 

... ein seltsames Hobby

So musste sich Hemingway gefühlt haben...(c) Jon Eric Marababol

Seine Finger sausten klappernd über die Tastatur des alten Computers und hielten nur inne, wenn seine rechte Hand wie von selbst zu dem kleinen Aschenbecher griff, um die brennende Zigarette kurz zum Mund zu führen und sie dann sofort wieder zurückzulegen, wo sie wie ein Räucherstäbchen vor sich hin glomm. Er speicherte das Dokument und lehnte ich zurück. Der dritte in diesem Monat. Er speicherte ihn unter Mallarde, Henry. Er seufzte, steckte sich eine neue Zigarette in den Mund. Irgendwann musste es doch funktionieren. Jakob Kohler hatte ein seltsames Hobby.

Er schrieb die Nachrufe lebender, berühmter Personen in der böswilligen Hoffnung, dass sie bald stürben und er seinen Nachruf an eine Zeitung schicken konnte.

Kohler wohnte über seinem kleinen Buchladen, mit dem er sich gerade so über Wasser halten konnte. Aber es machte ihm nichts, in zwei Jahren konnte er in Pension gehen. Er wollte Schriftsteller werden, hatte seine beiden Romane im Eigenverlag veröffentlicht, aber es hatte sich kein Mensch für seine Bücher interessiert. Immerhin hatte er noch den Buchladen inklusive gutem Kundenstab, da konnte man sich ja nicht beklagen. Und er hatte seine Nachrufe. Er hatte sich akribisch eine Liste geschrieben mit berühmten Künstlern, die in den Zwanzigern oder Dreißigern geboren worden waren und arbeitete sie ab. Nach dem 25. Nachruf ahnte Jakob etwas. Irgendwie schien ein Fluch auf ihm, oder ein Segen auf den Porträtierten zu liegen. Sie wollten nicht sterben. Hermann Hauser, der berühmte Schriftsteller, war sein zehnter Nachruf-Kandidat. Jahrgang 1915. Er verstand die Welt nicht mehr. 101 Jahre war der alte Sack. Kohler fühlte sich vom Schicksal verhöhnt. Natürlich, was er tat war nicht gerade moralisch, aber was er sich sehnlichst wünschte war ein kleines bisschen Ruhm. Ein kleines bisschen oho und aha und was für ein schöner Essay und wie hat er das so schnell so schön hinbekommen, ach hätten wir dem alten Kohler doch eine Chance gegeben. Aber nichts. Alle quicklebendig. Seine Nachrufkandidaten überlebten Krebsgeschwüre, Skiunfälle, Überdosen, Unterdosen – einer lag sogar im Wachkoma, aber sein Herz schlug wie eine Dampfmaschine. Kohler drückte resigniert seine Zigarette aus und seufzte. Es reicht, dachte er sich, nicht mit mir. Er stand schwungvoll auf, sodass ihm kurz schwindelig wurde. Er wusste, dieser Mallarde, Jahrgang 1921, würde noch dreißig Jahre leben, jetzt, da er über ihn geschrieben hatte. Kohler hatte genug. Er musste eingreifen.

Henry Mallarde, der große Maler, lebte in dieser Stadt. Zurzeit war er gerade in einem Sanatorium, aber es war bestimmt nichts Schlimmes. Versuchen wollte er es trotzdem. Jakob würde dem Guten einfach einen Besuch abstatten. Er schaute auf seine Armbanduhr und sah, dass es schon nach zwölf war.

Der Wein
(c)Bhavyesh Acharya

Dann eben morgen, dachte er sich und schenkte sich ein Glas Wein ein, das er sich auf das Nachttischkästchen stellte. Ohne einen guten Tropfen konnte er sowieso nicht mehr schlafen. Er stellte die Flasche auf dem Boden neben das Bett und zündete eine Kerze an. Kohler dachte darüber nach, wie er dabei aussehen musste und setzte das Glas an den Mund. Wenn der Schlaf nicht von selbst kam, musste man eben die Wachheit vertreiben. Den Gedanken wollte er sich in sein Notizbuch notieren, doch er ließ es bleiben. Er würde sich den Satz bestimmt merken.

Der Morgen kam für Jakob Kohler in Form von tausend Elefanten, die in seinem Schädel exerzierten. Sein Mund war trocken und seine Zunge klebte am Gaumen wie eine pelzige, dicke Briefmarke. Seine Augen waren verkrustet und öffneten sich langsam. Er stand auf und trat versehentlich die leere Weinflasche weg. Kohler schlurfte in die Küche und trank ein Glas Wasser. Er fühlte sich elend. Er trat ans Fenster und sah durch die schmutzigen Scheiben in den grauen Himmel. In der Wohnung roch es nach abgestandenem Rauch. So durfte es nicht weitergehen. Er hatte das dumpfe Gefühl, dass er gestern einen Einfall gehabt hatte. Mallarde. Er zog sich an und schwankte leicht die Treppen des Altbauhauses hinunter. Sein Wagen parkte gegenüber. Er war noch besoffen aber es war ihm egal. Das Sanatorium war am anderen Ende der Stadt. Das Gebäude erhob sich aus den umliegenden Häusern wie ein weißer Tempel, um dessen Mauern ein gewaltiges Werk schmiedeeiserner Kunst die Patienten vor Eindringlingen bewahrte. Kohler parkte seinen Polo eine Straße weiter, mit dieser Karre würde er nie auf das Gelände gelassen werden. Er näherte sich dem Schranken und erwartete einen Portier. Das Häuschen, in dem jemand sitzen sollte, war leer. Auf dem winzigen Holztisch vor dem Plastikfenster stand ein überquellender Aschenbecher. Glück gehabt, dachte sich Kohler und ging mit kurzen, schnellen Schritten in Richtung der Glasschiebetür, die mit undurchsichtigen Plastikstreifen beklebt waren, damit die Amseln, die in den Kronen der alten Buchen rings um das Sanatorium nisteten, nicht dagegen flogen und sich das Genick brachen. Die Tür ging quietschend auf und warme, nach Desinfektionsmittel und Rindssuppe riechende Luft wehte Jakob ins Gesicht.

Der Geruch der Verwesung, dachte er, weil er es eigentlich nicht besser wusste. Hinter einem gelben Block aus Fichtenholz saß eine mollige, junge Dame, die ihn genau beobachtete. Kohler riss sich zusammen, ging halbwegs gerade zum Tresen und stützte sich ab. Beim Sprechen bemühte er sich, möglichst nicht in die Richtung ihres Gesichts zu atmen. „Was darf ich für Sie tun?“ fragte das Fräulein. „Ich muss zu meinem Onkel.“ „Ihr Onkel?“ „Sie wissen schon wen ich meine.“ Kohler schaute nach links und rechts, als ob sie belauscht würden. Schon als Kind hatte er das Talent gehabt, die Leute hinters Licht zu führen, jedoch hatte er sich die Ausführung seiner schwarzen Kunst, wie seine Studienkollegen es oft bezeichnet hatten, noch nicht oft getraut. „Sie meinen den Maler?“ fragte nun auch sie, flüsternd. „Nennen wir ihn Onkel Henry.“ Die Frau schaute ihn lange an, und sagte dann kurz: „Zweiter Stock, Station 5“ Im Aufzug dachte Kohler an seine Arbeit und an seinen Lebensabend. Aus den versteckten Lautsprechern drang die Prager Symphonie. Kohler musste lächeln und ihm wurde warm ums Herz. Mallarde würde auf seinem Bett liegen, alt und fett, berühmt und glücklich, ein Mann, der nur darauf wartete, dass der Erzengel Gabriel an seinem Bett erschien, ihn bei der Hand nahm und ins Jenseits geleitete. Und wenn der Engel auf sich warten ließ, dann musste er eben helfen.

Die Tür des Fahrstuhls glitt auf, und Jakob Kohler hatte das Gefühl, dass seine Kopfschmerzen verflogen waren. Sein Kopf war mit Watte gefüllt und jeder Gedanke wanderte so langsam in seinem Schädel umher wie eine Feder, die zu Boden schwebte. Eine junge Schwester lächelte ihn an, er grüßte sie und schaute ihr nach, sah, wie sich ihre Gesäßbacken leicht hoben und senkten in ihrem grünen Kostüm. H. M. stand auf der letzten Tür im Gang. Jakob Kohler sah sich um, keiner da, holte tief Luft, und trat ein. Henry Mallarde lag allein auf dem Bett. In seiner von lila Adern durchzogenen, von Altersflecken übersäten Hand steckte eine Nadel, die ihn mit einer Natriumchloridlösung versorgte. Der Alte drehte seinen Kopf zu Kohler. „Wer sind Sie?“, krächzte er und klang, als würde ihm sein gewaltiges Doppelkinn das Reden erschweren. „Gabriel Kohler.“

„Was tun Sie hier?“

Der Alte hustete lange und rasselnd, sein Bauch schien die darüber gespannte Bettdecke zum Platzen zu bringen. „Ich bin ein Freund der Kunst.“ „Wer hat Sie hereingelassen? Niemand außer meinem Sohn darf mich besuchen.“ „Das wusste ich nicht.“ „Dann verschwinden Sie. Sofort. Ich werde eine Schwester holen.“ Seine fette, zittrige Hand, griff zu dem kleinen orangen Knopf. Kohler war schneller und packte seine Hand. „Was fällt Ihnen ein? Lassen Sie mich los!“ „Sie werden keine Schwester holen.“ Der Alte drückte kurz gegen den Griff Kohlers an, ließ es dann aber bleiben. „Wollen Sie Geld?“ „Nein.“ „Was wollen Sie dann?“ Sie hatten ein schönes Leben, Henry Mallarde.“ „Ja, das habe ich, warum sagen Sie „hatten“? Sie wollen mich hier doch nicht allen Ernstes umlegen?“ „Sie sind 90 Jahre alt. Das allein ist mehr als den meisten vergönnt ist.“ „Wollen Sie, dass ich ihr Vorhaben absegne, Sie Idiot? Damit kommen Sie nicht durch.“ Kohler lachte kurz. „Nein, Sie haben Recht.“ „Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Gabriel Kohler, wenn Sie überhaupt so heißen. Hauen Sie ab, solange Sie noch können.“ Der Alte hustete, war ansonsten aber ruhig. Jakob Kohler setzte sich an das Bett des Alten. „Ich hätte berühmt werden sollen, Mallarde.“ „Fahren Sie das Bett weiter rauf, ich möchte Sie sehen.“ Jakob stand auf und nahm die Fernbedienung in die Hand. Der Elektromotor kämpfte mit dem Gewicht des Künstlers. „Warum sind Sie es dann nicht geworden? “Die Menschen waren nicht bereit für meine Bücher.“ „Oder Sie waren einfach zu untalentiert.“ Kohler kicherte wieder und dachte daran, dass er den Alten eigentlich sofort töten wollte. „Vermutlich bin ich das.“ Jakob Kohler schaute auf seine Hände. Sollen das Mörderhände sein? Er hörte unbewusst, wie der Alte sich bewegte.

Mallarde fiel fast aus dem Bett, während er in seinem Nachtischkästchen nach etwas suchte. Jakob Kohler sprang auf. Der Alte richtete plötzlich eine Pistole auf ihn. „Setzen!“ Jakob Kohler ließ sich auf das Bett zurückfallen. „Glauben Sie, Sie sind der Erste, der mein Leben bedroht? Sie haben jetzt genau drei Möglichkeiten: Erstens: Sie stellen sich und gehen 15 Jahre ins Gefängnis. Zweitens: Ich töte Sie. Drittens: Sie töten mich. Die Möglichkeiten sind nach fallender Wahrscheinlichkeit geordnet.“ Kohler hatte verspielt. Das wusste er. Er saß da und sagte nichts.

Seine Mutter hatte recht gehabt. Er war eine Lusche.

„Erschießen Sie mich, Mallarde.“ „Seien Sie kein Feigling, Sie Vollidiot. Diesen gefallen werde ich Ihnen nicht tun. Sie auch noch erschießen. Ich werde dafür sorgen, dass Sie die 15 Jahre im Gefängnis bekommen und dort verfaulen und darüber nachdenken, was für ein erbärmlicher… Ich weiß gar nicht wie ich Sie nennen soll, aber das wissen Sie selbst bestimmt auch nicht.“ Mallarde lachte und die Glock in seinen Händen wackelte hin und her. Er lachte und grölte und hustete, sein Lachen schaukelte sich hoch, er konnte sich nicht mehr einkriegen. Sein Kopf war knallrot, Tränen flossen über seine fetten Wangen. Jakob Kohler sah ihn verzweifelt an, als sich plötzlich seine Mundwinkel nach oben zogen und er zu grinsen begann. Ein Kichern brach aus ihm hervor. Kohler hielt sich den Mund zu, während der Alte heiser vor Lachen kreischte und sich sein Hals lila färbte. „SSS.. Sie erbärmlicher….“, weiter kam Mallarde nicht, er legte seine Hände um seinen Bauch, während sein ganzer Körper zuckte. Er japste nach Luft und konnte nicht aufhören zu lachen. Das Japsen nach Luft wurde immer heiser. Er lachte mehr als er Luft holte. Seine Lippen waren blau. Jakob Kohlers Kichern schwoll zu einem Lachen an. Auch seine Augen füllten sich mit Tränen. Plötzlich zuckte der Alte und das Lachen in seiner Kehle wich aus ihm wie das letzte bisschen Luft in einem Heliumballon. Kohler lachte weiter, wischte sich die Tränen aus den Augen und blickte auf. Die Pistole war nicht mehr auf ihn gerichtet, sondern lag auf der Bettdecke im losen Griff von Henry Mallardes Hand. Jakob Kohlers lachen erstarb. Er stand auf und ging zum Kopf des Alten. Das Blut schwand langsam aus dem lila-roten Gesicht. Jakob Kohler stand ein paar Sekunden am Bett und traf eine Entscheidung.

Er packte die Waffe, riss das Fenster auf und warf sie hinaus. Er schloss das Fenster, drückte auf den roten Knopf neben dem Bett und stürmte Hilfe rufend nach draußen. Zwei Pfleger kamen herein und begannen, Mallarde aus dem Bett zu hieven. Jakob Kohler musste mit anpacken und verriss sich dabei seinen Rücken. Am Boden entkleideten Sie ihn und drückten auf seinen massigen Brustkorb. Ein weiterer Pfleger und ein Arzt schoben einen Wagen herein auf dem sich ein Defibrillator befand, und beklebten den fetten Körper mit Elektroden. Bei jedem Schlag bäumte sich der Körper auf, sodass der Boden bebte. Nach dreißig Minuten ließen Sie es bleiben. Kohler nutzte die Gunst der Stunde und schlich sich davon. Die Station war in Aufruhr und immer mehr Pfleger stürmten in Richtung Mallardes Zimmer. Kohler durfte jetzt keine Zeit verlieren. In der Station rief ihm ein Arzt nach. Jakob verstand nicht, was er sagte und ging einfach weiter. Er eilte am Portier vorbei in die Seitenstraße. Der Polo sprang nach dem dritten Mal an. Er trat das Gaspedal durch und war in zehn Minuten zu Hause.

Es war so weit.

Jakob Kohler war so aufgeregt, wie schon lange nicht mehr. Er öffnete den Ordner mit den Nachrufen, setzte eine E-Mail auf, hängte das Dokument an und schickte den bereits fertigen Nachruf Mallardes an alle großen Zeitungen. Als die E-Mail gesendet war, lehnte er sich erleichtert zurück und träumte vor sich hin. Vielleicht würde es jetzt wirklich etwas werden mit seiner Karriere als Schreiberling. Und wenn schon nicht als Schriftsteller, so wenigstens als Journalist. Er dachte daran, wie im Feuilleton der morgigen Frankfurter Allgemeinen das Gesicht Henry Mallardes prangte und darunter der Name des großen Biographen, Jakob Kohler. Nächste Woche in der ZEIT: Der Tod des Mallarde, von Jakob Kohler. Ihm wurde bei der Vorstellung leicht schwindelig. Er hatte es geschafft. Er öffnete die verdreckten Fensterflügel und betrachtete die unter ihm liegende Stadt.

So musste sich Hemingway gefühlt haben...
(c) Jon Eric Marababol

So musste sich Hemingway gefühlt haben, wenn er aus seiner Wohnung in der Rue du Cardinal-Lemoine sah. Kohler wusste, dass sein Stern endlich im Begriff war aufzusteigen.

Manchmal musste ein roter Riese zu Grunde gehen, damit ein neuer Stern geboren wurde.

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