Lieber Ludo,
dass ich ging, ohne auf Wiedersehen zu sagen tut mir Leid, aber es wäre, wie du bereits ahnen wirst, eine Lüge gewesen, und Lügen stehen mir nicht – dazu habe ich zu lange Beine…wie du auch weißt, aber genug davon. Ein langer Brief also, zum kurzen, schnellen Abschied – und eine Erklärung, keine Rechtfertigung, die ich dir noch schuldig bin.
Nun, wo fängt man an, wenn der Anfang eigentlich ein Ende ist? Dieses hier beginnt mit einem mintgrünen, großen Käfer, der über eine Windschutzscheibe kroch. Have you ever seen the rain tröpfelte aus dem Radio, und der Regen aufs Dach. Die Fühler des Käfers

bewegten sich im Takt zur Musik und liefen seinem arythmischen Gang zuwider: von rechts oben, nach unten, schräg links und wieder weiter nach unten. Eine zackige Diagonale. Als er beinahe gleichauf mit dem Lenkrad war, öffnete der Himmel seine Schleusen.
Der Scheibenwischer draußen schreckte auf, polierte ruckartig die äußere Front, was wiederum den Käfer innen erschreckte, der sich fallen ließ – am Lenkrad vorbei, meiner Mutter in den Schoß. Sie sah die grellen Scheinwerfer viel zu spät, die die Frontscheibe ins

Licht tauchten. Have you ever seen the rain, comin‘ down on a sunny day. Für den Augenblick sah sie nur den mintgrünen Käfer zwischen ihren Schenkeln. Und dann sah sie nichts mehr.
So pflegte mein Vater die Geschichte zu erzählen. Theatralisch, nicht wahr? Was soll ich sagen, mein Vater liebt Theatralik – er liebt sie sogar, wenn sie ihm Schmerzen bereitet. Wie Mutters Tod. Wir, ich und mein Bruder, waren damals gerade erst zur Welt gekommen – und noch namenlos. Andere Leute benennen ihre Kinder schon, da weiß die Eizelle noch gar nichts von ihrem Glück. Unsere Eltern fanden, sie müssten ihre Kinder – vor allem weil Zwillinge – erst ein bisschen kennenlernen, um festzustellen, ob‘s denn eher ein Paul und eine Lisa oder ein Tim und eine Tina werden soll.
Zur endgültigen Entscheidung kam es dann nicht mehr – mit dem Käfer konnte ja schließlich keiner rechnen. Es ergab sich aber, dass am Tag von Mutters Unfall die Nibelungen auf Vaters Nachttisch lagen und wir im Bettchen daneben. Ob es eine Anwandlung literarischer Verrücktheit war oder nur die Verzweiflung des Augenblicks lässt sich schwer sagen – ab diesem Abend waren wir jedenfalls nicht länger namenlos. Ich wurde zu Brunhild (glaub es oder nicht) und mein zweieiiger Zwillingsbruder kurzerhand – und ich wage zu behaupten infolgedessen – zu Siegfried.
Das blieb ohne weitere Komplikationen – bis zur Oberstufe. Als wir im Gymnasium dank einer geistreichen Pointe unseres Lehrers plötzlich als „Inzucht-Zwillinge“ gehandelt wurden, ließ sich Siegfried an einem Vormittag aus Protest ein handtellergroßes, goldbraunes Eichenblatt auf die Schulter tätowieren. Damit erschien er, Oberkörper unbekleidet, mitten im Winter während der Latein-Schularbeit frisch blutend in unserer

Klasse. Direktor H. litt Atemnot vor Zorn, als er davon Wind bekam – in Siegfrieds Gegenwart durchaus nicht das erste Mal. Die Blutstropfen brachten das Fass nur zum Überlaufen. Er verwies ihn der Klasse und – nach Siegfrieds süffisanter Äußerung, dazu müsse man ihn schon an seiner verwundbaren Stelle aufspießen – kurzerhand für zwei Tage der Schule.
An dieser Stelle sollte ich noch erwähnen, dass Siegfried in jenen besagten Tagen prompt von der Klassenschönheit entjungfert wurde und in weiterer Zeit selbst aufgrund des Eichenblattes zu mancher Entjungferung beitrug, auch noch seine berufliche Karriere hindurch bis in die Chefetage seiner Bank – nur, dass er von dort eines Tages nicht mehr zurückkehren sollte. Einer seiner Klienten rammte ihm, im Affekt wie es hieß, einen Brieföffner in die Schulter, als er ihm den Rücken zuwandte, und traf ironischerweise nicht nur das Schulterblatt.

Ich habe die Kruste in der Mittelader des Eichenblattes noch immer vor Augen, viel deutlicher als das Einstichsloch ein Stückchen entfernt, welches ihn dann am Ende tatsächlich getötet hatte.
Für Vater gab es letzteres Loch natürlich nicht. Drama, Baby, Drama, wie gehabt. Kopfschüttelnd betrachtete er das durchbohrte Eichenblatt, während er mir wie damals als kleines Mädchen die Hand auf den Kopf legte und dem Pathologen heroisch verkündete, bei Gott, er werde diesen Hagen finden, der seinen Sohn gemeuchelt hatte, das schwöre er! Bei diesen Worten nickte er mir finster zu – unwissend, dass er in diesem Moment seinem „Hagen“ indirekt in die Augen schaute: Ich wusste, wie Siegfried gestorben war. Ich war daran Schuld.
Nun weißt du, warum ich gegangen bin Ludo, und mehr musst du zum Abschied nicht wissen, außer warum ich nicht „auf Wiedersehen“ sagen konnte – es wäre tatsächlich eine Lüge gewesen.
Leb wohl.
Bruna