unweltlich

0 oder 1, ja oder nein

Wenn sinnvolle Diskussionen nicht mehr möglich sind.

(c) Sebastian Garcia(c) Sebastian Garcia

Wir sind es gewohnt, aus den schwierigsten Fragestellungen Entscheidungsfragen zu machen. Dabei reduzieren wir eine Fülle von Möglichkeiten und Kompromissen auf zwei Extrema. Weil das Wort „vielleicht“ in Diskussionen oft vergessen wird, missachten wir nicht nur andere Meinungen, sondern auch die natürliche Ästhetik.

Diskussionen über Dinge und Themen, die über die Fragen wie „Wo gehen wir heute trinken?“ oder „Was essen wir heute?“ (und selbst das kann kompliziert werden) hinausgehen, sind zunehmend unmöglich zu führen oder gar zu ertragen. Warum? Weil wir jede noch so komplizierte Fragestellung in einem Streitgespräch auf zwei konträre Pole hinunterbrechen, auf denen wir dann reiten, bis ihre Rücken gebrochen sind. Das alles mag überspitzt klingen, doch reden wir einfach über Politik. Wo stehen Sie? Bei den Gutmenschen oder im rechten Eck? Reden wir über die Wirtschaft. Gehören Sie zu denen, die sich mit zwei Jobs – salopp gesagt – den Hintern aufreißen oder sind sie auch einer dieser mit gerümpfter Nase ausgesprochenen „Neureichen“ mit zwei Audis in der Garage?

Obwohl unsere Gesellschaft im bunten Überfluss lebt, sind so viele Dinge optisch gesehen minimalistisch: Gebäude, Smartphones, Möbel. Es mag eine Laune unseres Zeitalters sein, aber es ist doch eigenartig, wie es einen regelrechten Wettbewerb der klaren und deutlichen Formen gibt.

Je quadratischer und gleichmäßiger das Gebäude, desto exquisiter; je dünner, größer, schlanker das Smartphone, desto schicker; je filigraner, je ebener und gerader, ja fast unbequemer der Sessel, desto geschmackvoller.

Der natürlichen Ästhetik der Unterschiede und Unreinheiten, der wilden Blumenwiesen oder den zerklüfteten Felsen und Bergspitzen scheinbar zum Trotz, setzt unsere Gesellschaft in ihren eigenen ästhetischen Idealen einen scharfen Kontrast. Aus einer zittrigen Linie auf einem Blatt Papier wird ein gerader Strich. Ausreißer gibt es nur mehr in verspielter, ironisierter Form.

Solche Striche ziehen sich nicht nur durch die äußeren Zeichen und Statussymbole der Gesellschaft, sondern auch durch Diskurse und machen das Leben scheinbar einfacher: entweder – oder, ja – nein, rechts – links gelten als Standpunkte zu komplexen Themen.

Das Vielleicht ist zum Buhmann geworden, obwohl es eigentlich die Antwort auf die meisten Fragen ist.

Unser Drang, alles zu vereinfachen, wird uns in der Diskussionskultur zum Verhängnis. Wir maßen uns an, die schwierigsten Herausforderungen, die in den letzten Jahren auf uns zugekommen sind, mit einer Axt zu zerspalten und uns ein Scheit davon unter den Arm zu klemmen. Was wir mit diesem Hieb allerdings zerstört haben, ist der Blick auf das Ganze. Weil dieser Blick von den meisten Menschen boykottiert wird, streiten wir über Politik anstatt darüber zu reden. Ein Computer rechnet mit dem binären Zahlensystem; für die Maschine gibt es nur 0 oder 1, ja oder nein. Wir haben jedoch vergessen, dass unsere Gesellschaft und wir selbst als Menschen unendlich komplizierter sind. Sobald wir uns auf dieses Zweierspiel einlassen, zerstören wir uns, reduzieren uns auf zwei Zahlen. Das einzige, was uns retten kann, ist ein dickes Vielleicht, ein politisches Denken, das Menschen, nicht Parolen oder alte Ideologien, in den Vordergrund stellt und als solche erkennt; ein Verständnis von Wirtschaft, das nicht nur mit Gewinnmaximierung, sondern auch mit Empathie aufwartet, kurz: ein ganzer Ozean anstatt zweier Badewannen.

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