Alle Jahre wieder bricht sie über uns herein – und die Rede ist nicht von der Weihnachtszeit, obwohl auch diese eher hereinbricht, denn besinnlich daherkommt. Ich spreche von der Shoppingnight – und die kommt sogar zwei Mal.
Für jene, die an diesen Abenden durch die Stadt bummeln können, ist das unterhaltsam – ungeachtet der Tatsache, dass sich in keinem Schuhladen mehr ein Schuh neben dem anderen befindet, geschweige denn in Schachteln, und shoppingwütige Frauen wie Männer (!) wegen Kleinigkeiten zu Hyänen werden… offenbar schüren Prozente die masochistische Neigung und lassen die genossene „Kinderstube“ in Flammen aufgehen.
Wer den Masochismus nicht verspürt, kann sich natürlich vor dem Abend drücken. Wehe aber, man hat einen Studentenjob, der genauso wie jeden Tag erledigt werden muss, beispielsweise als Einräumkraft in einem Kaufhaus. An solchen Tagen verliert man selbst als standhafter Mensch kurzzeitig den Glauben an das Gute, sofern man ihn bis dahin noch hatte. Am frühen Abend der Shoppingnight hatte ich ihn tatsächlich noch…
Da stand ich entspannt an meinen Warenwagen gelehnt im Geschäft und beäugte seinen Inhalt, während die Kunden portionsweise hereintröpfelten. Grade wunderte ich mich noch über die mickrige Frequenz, da sah ich schon durch das Schaufenster eine Menschentraube auf die Eingangstüre zuströmen. Offenbar waren die anderen nur die Vorhut gewesen.
Jetzt hatte die Shoppingnacht erst richtig begonnen.
Gott sei Dank besinnt sich der Mensch in solchen Situationen auf seinen Überlebenstrieb. Während meine eine Hirnhälfte also reflexartig erwog, mich hinter dem nächsten Pappaufsteller zu verstecken, mahnte mich die andere zur einzig vernünftigen Lösung: Den Wagen in die Süßwarenabteilung schieben, wo er hingehört, und raus aus der Überschwemmungszone.
Aber die Flut hatte schon eingesetzt: brandete einmal um den Aufsteller herum, schwenkte die Einkaufstaschen und schwemmte mit shoppingwütigen Augen auf mich zu – ich, noch immer regungslos auf dem gleichen Fleck. Ich stemmte mein ganzes Gewicht gegen den Wagen, der sich nicht von der Stelle rühren wollte. Dummerweise sind Menschen nicht wie Ameisen – wir bewegen nicht einfach das Dreifache unseres Körpergewichtes (schon gar nicht mit einem verkeilten Vorderrad), und an diesem Tag hatte der Wagen wirklich Gewicht: Kilos über Kilos geballtes Zuckergummi und Schokoladenzeug. Schließlich eierte das Ding dann doch langsam von dannen, Richtung Süßwarenabteilung.
Als ich um die Ecke bog, sah ich dort bereits etliche Köpfe oberhalb der Regale hektisch hin- und herhasten, Drehungen vollführen, verschwinden, wieder auftauchen, umkehren und weiterrücken – Pacman in Echtformat. Memo an alle: Wenn sich Kunden wie Pacman verhalten, ist das NICHT gut. Das Phänomen findet man so arg nur kurz vor Weihnachten – oder eben während der Shoppingnight: Da herrscht Ausnahmezustand.
Prozente bzw. die Aufschrift „Geöffnet bis 23.00 Uhr“ wirken wie Drogen, treiben die Einkaufsmeute durch die Nacht – und durch meine Regalreihen, ohne Rücksicht auf Verluste.
Während ich dort also vor mich hinarbeitete und umsichtig Schachteln aufeinander schichtete – die aufgetürmten Keksrollen im Blick – griff man einfach vor mir, neben mir, hinter mir und über mir ins Regal und holte sich, was immer das Herz begehrte. Kinderfinger, Armreifen, Hemdaufschläge und Uhren verschwammen nur so am Rande meines Blickfeldes.
Ohne aufzusehen, griff ich dann irgendwann erneut in die Kiste hinter mir, bereit für die nächste Keksladung– und griff ins Leere. Erstaunt drehte ich mich um. Auf der anderen Seite der Kiste häufte sich eine Frau gerade meine drei letzten Keksschachteln auf den Arm. Einen Moment starrten wir uns an.
„Was ist?“, fragte ihr Blick. „Bitte nicht die Sachen aus den Kisten nehmen, wir räumen sie erst ein“, klärte ich die Frau auf und fühlte mich ein bisschen wie ein Kindergärtner, der dem Schützling erklärt, dass man Kaugummi nicht unter den Tisch schmieren darf. „Warum?“ Warum? Kurzzeitige Verwirrung. „Ähm, weil, ich bin eben noch beim Einräumen“, brachte ich ungemein wortgewandt heraus. Die Frau schnaubte, schmiss die Keksschachteln in die Kiste zurück und zog ab, ehe ich noch etwas sagen konnte.
Etwas aus dem Konzept gebracht, stopfte ich die drei Schachteln unwirsch ins Regal und brachte damit prompt die Keksrollen ins Wanken. Eine nach der anderen rollte davon, während ich wie Shiva mit fuchtelnden Armen und Beinen versuchte die Sauerei aufzuhalten. Vergeblich. Außer blaue Flecke bewirkte das rein gar nichts. Aber als Einräumhilfe ist man da ja Gott sei Dank abgehärtet.
Selten erlebt man die Physik der Schwerkraft, Masse und Geschwindigkeit so nahe am eigenen Leib wie hier.
Da rollt einem – je nach Grad der persönlichen Ungeschicklichkeit – auch mal der zentnerschwere Wagen über die Zehen, zertrümmert Glas, gräbt sich tief in die Achillessehnen oder kippt einem auf die Nase – da ist man froh, wenn man seine Körperteile behält und es nur mit blauen Flecken abgeht.
Als ich wieder mit hochrotem Kopf, den Arm voller Keksrollen, aus der gebückten in die senkrechte Position zurückkehrte, kramte schon wieder jemand in meinen Warenkisten. Es war nicht zu fassen. „Entschuldigung, bitte nichts aus der Kiste nehmen!“ Der ältere Herr ließ den Schokoriegel fallen. „Ich suche Schokolade“, verteidigte er sich. „Das ist die Keksreihe“, bemerkte ich trocken. „Ich weiß, aber ich suche eine kleine Milchschokolade, so eine Tafel…“, er zeigte mit den Fingern ein minuskulöses Täfelchen. Ich warf die Keksrollen in die Kiste zurück und bedeutete dem Herrn mitzukommen. Eine Reihe weiter drückte ich ihm eine kleine Milchschokolade mit Nüssen in die Hand.
„Ohne Nüsse, bitte.“ „Haben wir nicht, vielleicht diese mit Chili?“ „Nein.“ „Wie wär‘s mit Marzipan?“ „Nein.“ „Oder Vanille?“ „Nein – nur normale Milchschokolade! Ist denn das unmöglich?!“ „Die haben wir so klein nur im Dreierpack.“ „So, so – Dreierpack…ich brauche keinen Dreierpack, gibt wohl kein vernünftiges Geschäft mehr?!“
Es gibt auch keine vernünftigen Kunden mehr, lag es mir auf der Zunge und blieb dort. Der Kunde ist König – immer. Jemand tippte mir von hinten zaghaft auf die Schulter. „Habt ihr auch Chupa Chups?“ Zwei Mädels im Süßrausch. Ich deutete mit der Hand irgendwo in die hintere Ecke des Raumes. „Es tut mir Leid,“ begann ich wieder an den Herrn gewandt, „vielleicht versuchen Sie es…“ „Dort haben wir schon nachgesehen, die gibt’s da nicht…“, unterbrachen mich die beiden nochmal. Pflichtbewusst beschrieb ich ihnen die genaue Stelle. Als ich mich wieder umwandte, war der Herr verschwunden. Was für ein Abend. Es war schon spät – und ich hatte noch nicht einmal die Hälfte meiner Waren eingeräumt.
Ich schwor, mich auf keine Diskussionen mehr einzulassen und trollte mich zurück zum Warenwagen. Dort entging mir nicht, dass einige Keksrollen aus der Kiste fehlten – neun hatte ich zurückgelassen, drei waren noch da. Shoppingnight ist anders, klar – aber in solchen Augenblicken fragt man sich schon, was denn mit manchen Leuten falsch läuft.
Kopfschüttelnd arbeitete ich eine Weile ruhig weiter, während der Lärm um mich herum zu einer zähen Tonmasse verschmolz und mir die Wärme allmählich den Schweiß auf die Stirn trieb. Grade machte ich mich daran, all die verirrten Utensilien aus dem Regal zu fischen, die dort eigentlich nichts zu suchen hatten – Rasierer neben Gummibärchen, Make up im Schokoladenregal oder Kinderspielzeug zwischen den Keksschachteln…ja, man wundert sich über gar nichts mehr.
Da tönte es schon wieder in meinem Ohr: „Entschuldigung?“ Ich blickte stur auf die Schokotaler. „Entschuldigung?!“ Den Kopf ins Regal gesteckt, mimte ich hektische Betriebsamkeit. „Entschuldigung!“ maulte die Stimme nun endgültig böse. Zähne zusammen und lächeln. „Ja, bitte?“ Eine Dame hielt mir eine leere Shampoo-Flasche unter die Nase. „Wo kann ich das finden?“, fragte sie brüsk – vor dem Schokoladenregal.
„Das ist die Süßwarenabteilung“, seufzte ich, „vielleicht versuchen Sie es in der Shampoo-Abteilung?“ „Da war ich schon, hab‘s nicht gefunden…und überhaupt, die Shampoos waren doch mal hier…was ist hier eigentlich los?“ „Das Sortiment wurde umgestellt.“ „Na super Idee – und da soll man jetzt noch was finden?“, schnappte die Dame, kräuselte die Lippen und warf mir einen verärgerten Blick zu. Ich zuckte die Achseln.
Der Kunde als König konnte mich langsam kreuzweise – und ja, korrekt erkannt: An der Stelle begann sich mein Glaube ans Gute im Menschen in Kundengestalt zu verabschieden. „Tut mir Leid, ich kann Ihnen nicht helfen, vielleicht versuchen Sie es nochmal in der richtigen Abteilung, die kennen sich aus.“ Ich drehte mich um und griff nach der nächsten Packung. Die Frau zog schimpfend ab.
Das war das Ende vom Lied, jedenfalls von dem, das ich notieren möchte, denn so ging es noch lange weiter. Irgendwann war aber auch dieser Horrorabend überstanden – in meinem Fall mit arbeitsbedingt müden Füßen und kundenbedingt kaputten Nerven. Beides haben eine Couch und ein ordentliches Stück Schokokuchen mit der Zeit wieder hergestellt. Öfter im Jahr bräuchte ich das Klimbim allerdings nicht, mag das Miete und Geschäft zuträglich sein was will. Alle Jahre wieder – und das zwei Mal – reicht.