Ich ziehe die Zeitung von gestern aus dem Mülleimer. In fetten Buchstaben auf der Titelseite:
KATWOMAN TOT!
Seite 5. Ich blättere. Katwoman hat heute um null Uhr dreizehn unter dem Deckmantel der Selbstüberschätzung Suizid begangen. Zeugenaussagen zufolge sprang sie mit ausgestreckten Armen vom ehemaligen Mehlschwalbenhaus und landete mit einem dumpfen Klatschen auf dem rabenschwarzen Beton. Ihre fleischlichen Überreste wurden von einem Straßenkehrer entfernt und entsorgt.
Die Zuseher sind erschüttert – darunter auch Kinder, die nun psychologisch betreut werden. Ob sie jemals in ihr altes Leben zurückfinden, bleibt abzuwarten. Diese Gräueltat ist nur ein weiterer Beweis für die Existenz der Schwerkraft und die Flugunfähigkeit von Katzen. Die Politik bittet Selbstmörder um Wahl eines anderen Ortes und einer anderen Zeit – man möge an die Mitmenschen denken!
Ich falte die Zeitung zusammen und kratzte einen Kaugummi von der Unterseite der Parkbank. Guter Stoff, der schmeckt sogar noch…mhmmm…Melone. So eine Verschwendung, denke ich und erinnere mich. Ich sehe Katwoman durch den Park schlendern. In schwarzen Heels und einer hautengen Lederhose. Wenn sie in der Nacht nicht die Welt rettete, kroch sie in mein Zelt aus schwarzen Müllsäcken. Wir sprachen über die Welt, Gott und die Menschheit. Das waren die schönsten Nächte. Erst wenn die Sonne ihren Höhepunkt erreicht hatte, erwachten wir. Der Zauber war verflogen. Aber sie noch da.
Eines nachts kam sie nach dem großen Einsatz zu mir. Das tat sie sonst nie. Sie war aufgewühlt und erzählte mir von ihrer Kindheit in Bamberg. Von ihrem Elternhaus, der grünen Villa am Stadtrand, dem gewalttätigen Vater und der untätigen Mutter. Von ihrer Oma, die sie so liebte und im Alter von fünf Jahren verlor. Von Lilli, der Katze, die überfahren wurde und ihren falschen Freunden. Max. Will. Selma. 2012 ging es dann richtig bergab. Damals war sie vierzehn. Alles begann mit einem Glas Bier und endete mit Crystal und Kokain und Schulden.
An ihrem sechzehnten Geburtstag erwachte sie wegen einer Überdosis im Krankenhaus und wurde zwei Tage später von ihrer Familie verstoßen. Ihr Dealer machte Druck. Er wollte sein Geld. Da beschloss sie die Welt zu retten.
In der Nacht schlich sie als die freundliche Katze von nebenan durch die Nachbarschaft und verkaufte Glück zu einem Spottpreis.
Zwei Jahre später waren die Schulden abbezahlt. Sie zog nach Berlin und blieb ihrer Linie treu, doch dieses Mal hatte sie keinen starken Gehilfen, der auf sie achtete. Sie zog allein durch die dunklen Straßen nur mit einem Revolver in der schwarzen Ledertasche. Als ich sie fragte, ob sie sich nie fürchtete, lachte sie.
Es gibt so viel Schlechtes auf der Welt, mein lieber Junge, aber das Wesen des Menschen gehört nicht dazu. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Ich war überrascht. Nach allem was sie erlebt hatte, glaubte sie noch immer an das Gute im Menschen.
Aber du hast natürlich recht. Ab und zu habe ich Angst, aber nicht vor den anderen, sondern nur vor mir selbst. Ich habe Flugangst.
Wohin willst du fliegen, fragte ich.
Hoch hinaus, sagte sie.
Wir schwiegen. Es war eine warme Sommernacht und ich hatte die Dachluke meines Zelts geöffnet. Die Lichter der Flugzeuge zerbrachen den Himmel.
Am nächsten Morgen war Katwoman verschwunden. Das war unsere letzte Begegnung.
Ich suche meine Liebe und finde ihn auf der tätowierten Mauer unter seiner Brücke. Wortlos reiche ich ihm die Zeitung. Seine Nase ist noch immer blau und geschwollen von der Schlägerei. Ein unförmiger Klumpen Fleisch, der scheinbar wahllos in seinem Gesicht hängt. Die Leute erschrecken, wenn sie uns sehen. Sie verstehen uns nicht, verurteilen nur. Katwoman hat uns immer verteidigt. Sie war anders. Er nimmt mich in den Arm und ich weine.
Es ist nicht deine Schuld, sagt er, als ich mich beruhigt habe.
Ich weiß. Wieso sollte es meine Schuld sein, frage ich.
Er will ausweichen, das Thema wechseln. Ich frage ihn, ob er noch Schmerzen hat.
Ja.
Wieso sollte es meine Schuld sein?
Ach, ach…ich hatte nur Angst, dass du dir den Kopf darüber zerbrichst, ob du etwas tun hättest können.
Er lügt.
Würdest du dir nicht den Kopf zerbrechen, wenn ich an ihrer Stelle wäre.
Doch schon.
Aber?
Aber es ist etwas Anderes.
Wieso?
Weil sie dich geliebt hat.
Nein, sie wusste, dass ich dich liebe. Sie wusste es.
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Wieso…wieso erzählst du mir das?
Du wolltest die Wahrheit wissen.
Aber das ist nicht die Wahrheit!
Ich habe gesehen, wie sie dich angesehen hat.
Ich gehe. Ich kann ihn nicht ertragen, nicht jetzt.
In unserem Zelt aus Müllsäcken rolle ich mich zusammen. Dort ist es dunkel. Wenn wir uns trafen, war es auch immer dunkel. Wenigstens daran wird sich nichts ändern, denke ich und schließe die Augen…
Es ist Vollmond und ich gehe die Kurfürstenstraße entlang. Eine schwarzhaarige Schönheit spricht mich an. Ob ich ihr Feuer geben könne. Ob sie mir Gesellschaft leisten dürfe. Ihre Jacke ist geöffnet. Es ist kalt. Ich weiß nicht, warum ich zustimme. Erst im Zelt gestehe ich, dass ich kein Geld habe und eigentlich auch–. Sie deutet mir still zu sein und legt sich neben mich.
Der Mond ist nur noch die Hälfte wert und wir klettern auf ein Dach. Durch ein geöffnetes Fenster können wir uns einen Film ansehen. Eine schöne Frau verliebt sich in einen schönen Mann und umgekehrt. Ende. Sie sagt, sie liebt Julia Roberts, vor allem ihr Haar. Niemand könne mit einem Rotschopf mithalten.
Sie kriecht zu mir ins Zelt. Lange, rote Striemen bilden ein sternförmiges Muster auf ihrem Rücken. Vor ein paar Monaten habe ich zwei fast leere Salben aus einer Mülltonne gefischt. Mit dem Taschenmesser schneide ich die Packungen auf und verteile den Inhalt auf der wunden Haut. Eine Woche lang übernachtet sie bei mir und erzählt von ihren Engeln. Ich wusste nicht, dass es so viele böse Engel gibt. Ich dachte, dass man diese Dämonen nennt.
Der Frühling hat Berlin erreicht und mit ihm der Jahrmarkt. Wir brechen ein. Die Stadt wirkt so klein, wenn man auf dem höchsten Punkt des Riesenrads sitzt. Das war ihre Idee. Ich habe Höhenangst. Doch sie zittert. Ich gebe ihr meine Jacke. Die Kälte bleibt.
Mein Blick fällt auf ein paar Münzen am Toilettenboden. Ich sammle diese und lade sie zu Kaffee und Kuchen ein. Sie hat ihre Kleidung gewechselt und sieht nun aus wie eine feine englische Lady. Die Törtchen schmecken gut. Der Kaffee noch besser. Ich frage mich, ob sie glücklich ist? Darüber würde ich mich sehr freuen.
Sie liest mir die Zeitung von gestern vor, denn ich kann nicht lesen. Ein Mann wurde im Park erschlagen. Am nächsten Morgen will uns die Polizei befragen, aber Katwoman ist verschwunden.
Als ich sie am folgenden Tag treffe, will ich über das Verbrechen sprechen. Sie will mir lesen beibringen. Ich lasse mich überreden. Wir treffen uns jede Woche. Das ist regelmäßig und schön und ich weiß jetzt wie man Aal schreibt. Das ist ein langer Fisch. Wir sitzen auf der Parkbank, Rücken an Rücken. Ich male mir die Sterne aus. Sie erinnert sich. Ich bin hier aufgewachsen und habe noch nie welche gesehen. Sterne funkeln wie kleine Diamanten, meint sie. Auch Diamanten habe ich noch nie gesehen. Aber ich glaube ihr.
Drei Tage später gehe ich wieder zu ihm.
Vielleicht hast du recht. Sie erzählte mir einmal, dass ich der einzige bin, der sie nicht drängt. Dass ich ihr Zuhause bin. Vielleicht liebte sie mich.
Mittlerweile sind drei Jahre vergangen. Sie fehlt noch immer. Auch alles andere ist geblieben wie es war. Ich will nicht glauben, dass sie fort ist. Bestimmt ist es nur ein Trick. Sie hat gelernt wie man seine Angst überwindet und ist zu den Sternen geflogen. Bestimmt verschenkt sie dort Glück ganz umsonst.
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Diesen Text hat unsere Gastautorin Christina Vettorazzi verfasst.