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Männerschnupfen – ein Weg zur Selbstfindung

Schnupfen bedeutet für das männliche Geschlecht nicht nur eine rinnende Nase, sondern Konfrontation mit den essentiellen Fragen des Lebens

(c) Jacob Ufkes(c) Jacob Ufkes

Für Männer bedeutet Schnupfen viel mehr als ein kratziger Hals und fließendes Nasensekret. Der Schnupfen soll das männliche Geschlecht mit den wichtigen Fragen des Lebens konfrontieren. Genau das macht das Phänomen Männerschnupfen so schwer zu ertragen.

Es kam schleichend, kriechend langsam, wie ein grauer Schatten, der sich einem manchmal über das Gesicht legt. Zuerst tat das Schlucken ein bisschen weh, dann war der Hals ganz dünn belegt, und im Laufe des Tages kratzte er ein bisschen. Ein Nasenloch schwoll etwas mehr als sonst an und die Haut war an jenem Tag einfach besonders sensibel. Nein… Nein, es konnte doch nicht… Lieber noch einmal auf Nummer sicher gehen und die Fähigkeiten des neuen UV-Licht-Infrarot-Laser-Tag-Fiebermessers austesten. Das Ergebnis: fatal. Im Halbdunkel der noch zugezogenen Vorhänge schimmerte die Zahl auf der taschenrechnerartigen Anzeige in bedrohlichem blau: 37,1.

Eine rotzige Metapher

Die Diagnose Männerschnupfen ist zu Beginn nicht leicht zu verkraften. Infizierte reagieren oft voreilig und panisch und wissen nicht, wie sie sich richtig verhalten sollen. Typische Verhaltensmuster schließen Kontrollgänge zum Kühlschrank, um Vitamin-C-haltige Rückstände von Orangensaft oder kalte Pizza vom Vorabend sicherzustellen, wildes Wühlen im Arzneischrank nach Mexalen, Grippostad oder dem lustigen Beeren-Hustensaft oder das zur eigenen Sicherheit und der Sicherheit der Mitmenschen vorbeugende Verweilen in Embryonalstellung im warmen Bett nicht aus.

Die meisten Patienten überleben den Männerschnupfen, aber das eigentliche Leid dieser Krankheit verbirgt sich in der Psyche der Betroffenen. Der Schnupfen ist mehr als eine Bezeichnung für den Zustand, in dem sich Nasensekret vom Körper löst, er ist eine Metapher: eine Metapher des Schleims, des Rotzes, aber auch der Vergänglichkeit, der Selbstzweifel, des Besinnens auf das eigene Leben. „Wo stehe ich? Was mache ich in meinem Leben?“, fragen sich die Erkrankten auf dem Sofa, umringt von gebrauchten Kleenex, leeren Nasenspraydosen und Schokoladeverpackungen. Hilflos, schutzlos, vollkommen den Tücken eines grippalen Infekts ausgeliefert, beginnen sie, sich selbst zu suchen, und zu finden.

Der Schnupfen ist eine kleine Zäsur im Leben eines kleinen Mannes, man rekapituliert, man erkennt, dass man sterblich ist.

Wie barocke Dichter betrachtet man den Blumenstrauß, den jemand neben das Krankenbett gestellt hat. Die Blütenblätter welken, die grüne Haut des Stängels trocknet langsam aus, wird grau und spröde. Vanitas. Irgendwann endet dieses eitle, vergängliche, sinnlose Streben nach Glück und Erfolg; warum arbeitet man immer noch jeden Tag? Noch nie war man auf den Malediven gewesen, ja noch nicht einmal auf Mallorca (nicht, dass man dort wirklich hinfliegen will, aber trotzdem). Es bleibt die Erkenntnis, dass sich etwas ändern muss.

Ein Weg zum Ich

Der Männerschnupfen ist das heutige Pendant zu den Leiden, die die Männer der von Kriegen und den Tücken der Großwildjagd geprägten Generationen im Lazarett oder im Kurhospital ertragen haben. Damals wie heute sind es junge Männer, die aufgrund eines einschneidenden Ereignisses oder einer Nahtoderfahrung tabula rasa, reinen Tisch machen wollen mit ihrem Leben, einen Start wagen in ein erfülltes, sinnvolles und sinngebendes Leben. Männer haben Verständnis für andere, mitleidende Brüder. Nicht selten klopft man einem anderen Leidenden im Vorbeigehen schweigend auf die Schulter, denn man weiß, was dieser Mann gerade durchmacht: einen Kassensturz des gesammelten Karmas. Ist man einer von den guten oder von den Bösen, wie kann man in zehn Jahren eine eigene Immobilie anschaffen, wie kann man in einer Zeit von Anti-Augenringe-Roll-on-Koffein-Mini-Deos und Bartshampoos noch ein Mann sein? Männerschnupfen ist eine Chance für das Seelenheil, eine Katharsis, ein Weg zur Selbstfindung.

 

Tags : Gesellschaft

Ein Kommentar

  1. Männerschnupfen ist ein todernstes Thema, dessen bin ich mir trotz Ermangelung persönlicher Erfahrung bewusst. Trotzdem ist es mir unmöglich, ernst zu bleiben. So also meine Frage: Kann man den Autor auf Schadensersatz verklagen, da man vor Lachen aus dem Bett gefallen ist und dabei den letzten Rest seines Mitleids für Männerschnupfen-Erkrankte verloren hat? Und das ist ein bemerkenswert großer Verlust, wenn das eigene Mitleid für „kranke“ Menschen in einen Fingerhut für Kleinkinder passt und sogar noch etwas Platz für Sarkasmus bleibt, mit dem man die Situation eigentlich etwas auflockern möchte!

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