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Fallen & Fliegen

In einer Dimension, die er nur für sich selber geschaffen hatte, saß einsam ein Mann an einem Lagerfeuer. Ein geduldiger Geist möchte man meinen, starrte er doch ...

Literatur, Sinn, Gedanken, Teufel, Menschen, Mut, Gefühle(c) Michael Mroczek

„Gabriel“, tönte es in alter Freundschaft zur Begrüßung, „du warst schon immer eifrig, wenn es jemanden aufzuspüren galt. Wie ein Bluthund unter euch edlen Gemütern, möchte man meinen.“

„Was glaubst du hier zu tun?“, fragte der vorher Schleichende voll Unverständnis und trat ohne ein Zeichen des Zögerns aus dem Schatten in das Licht.

„In der Tat grille ich gerade, mein Freund“, lautete die unbekümmerte Antwort. „Marshmallows. Möchtest du einen?“

„Ich werde nicht das Brot mit dir brechen, Verfluchter“, antwortete der Engel, die Stimme voller Abscheu, schneidend wie ein Schwert.

„Brot? Nein! Marshmallows, siehst du?“

Gefühle, Menschen, Marshmallows, Teufel, Gespräch, Himmel und Hölle
(c) Alex Holt

Ohne auf den Vorwurf einzugehen, führte der Gastgeber die dargebotene Delikatesse zum Mund, biss zu. „Weicher als Brot es je sein könnte“, stellte er sogleich kauend fest und schaute dem gekommenen Engel zum ersten Mal ins ablehnende Antlitz, „also, du solltest wirklich probieren. Du verpasst etwas, glaub mir.“ Das Eis war gebrochen, jegliche himmlische Zurückhaltung schrie nach Erlösung.

„Es ist genug, Luzifer“, donnerte der Engel, „warum bist du hier, vertreibst dir die Zeit mit diesen närrischen Launen, wenn es doch eine Aufgabe gibt, die nur dir allein zugedacht ist?“

Der Teufel ließ seine Mundwinkel ein wenig sinken. Die Worte des Engels waren kalt, mechanisch.

Wie damals, als das Universum zu entstehen begann, als nur Form und Funktion zählten, bloßer Zweck. Er erinnerte sich nur ungern daran. 

„Immer direkt, ohne Umschweife zum Kern der Sache“, begann der Teufel nach einer Weile, sein Tonfall erzählte von wohlwollender Resignation. „Natürlich, es ist ja auch immer dasselbe mit euch. Dabei habe ich meinen Posten doch gar nicht verlassen. Wenn ihr meine Memos lesen würdet, wüsstet ihr es bereits seit Urzeiten: Ich mache lediglich einmal Urlaub. All dieses Leid und diese Verdammnis schlagen einem manchmal schon recht arg auf das Gemüt, weißt du?“

„Es kümmert uns nicht, welchen Tribut es von dir fordert“, ließ Gabriel keinen Zweifel an seiner Sicht der Dinge. „Über die Hölle zu wachen ist deine Aufgabe, dein Zweck. Etwas, das es für dich zu erfüllen gilt.“

Tief einatmen, vielleicht bis zehn, vielleicht auch bis hundert zählen, dachte der oft schon missverstandene Herrscher der Hölle. Es war und ist schon selten einfach mit solchen Geschwistern.

„Hör zu“, begann Luzifer abermals. Zwei Worte konnten manchmal durchaus schon die Geburt einer gänzlichen neuen Vorgehensweise ankündigen. „Ich weiß, Bruder. Ich weiß, dass du es nie verstehen wirst. Doch es ist allmählich zermürbend, dieses ständige Gerede vom ultimativen Zweck, wenn ihr doch alle genau wisst, dass da noch viel mehr ist“, der Teufel verharrte, wartete auf eine Antwort, doch Gabriel blieb stumm. „Menschen haben Gefühle, wusstest du das?“

„Du bist kein Mensch“, entgegnete der Engel lapidar.

„Nein, ich nicht, wirklich nicht, nie gewesen“, bestätigte der Teufel und seufzte, „aber die armen Bastarde, die ich sonst wie dieses Marshmallows tagein, tagaus zu braten pflege – sie sind Menschen. Sie fühlen, spüren etwas – und sie leiden, bitterlich, manchmal außen, manchmal innen.“

Er hätte dies schon viel früher, dachte er, viel deutlicher sagen sollen. „All diese Jahre, diese Jahrhunderte schwelgt ihr Engel schon in wohliger Seelenruhe, umringt von göttlicher Präsenz. Ich wette, ihr habt noch nie einen Gedanken an diesen Umstand verschwendet. Warum, denkst du, habe ich den Himmel verlassen? Irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen, dieser ganze engstirnige, selbstbeweihräuchernde Haufen.“

„Du fielst einst schon einmal vom Himmel, weil du zu stolz warst, Stern des Morgens“, konterte der Engel unbeeindruckt, „nun scheinst du aber noch tiefer fallen zu wollen.“

Tatsächlich, es war immer dasselbe, dachte sich Luzifer. Eine unangenehme Wahrheit kündigt sich an, erforscht eifrig kriechend ein Ende des Gehörgangs, nur um auf der anderen Seite spurlos wieder zu verschwinden. Kein noch so leichter Eindruck blieb jemals haften. Wie eine Teflonpfanne, diese Engel.

„Genau das verstehst du nicht, Gabriel.

Dieses Fallen.

Manchmal will man einfach fallen, tiefer und tiefer, bis man endlich am Boden dieser Schlucht aufschlägt. Ich habe es oft gesehen, bin ich doch in göttlicher Gnade dazu auserwählt, immerdar das höllische Kindermädchen spielen zu dürfen.“

Eine bedeutungsvolle Pause folgte, denn kann es ohne Vergessen nie ein Verzeihen geben. Das Marshmallow drehte sich weiter, tatsächlich hatte es nie damit aufgehört. „Wie oft ich es tatsächlich gesehen habe, Gabriel, welche Seele mag das schon noch interessieren? Doch jedes einzelne Schicksal liegt mir schwer im Magen – wirklich, das kannst du mir glauben. Immer ist es ein anderer Grund, weißt du? Manchmal fürchten sie sich vor etwas. Manchmal ersticken sie an ihrer Verantwortung. Manchmal können sie sich aber auch nie mit diesem Gesicht im Spiegel anfreunden“, sagte der Verstoßene leise und starrte in das Feuer. „Alles, was man vor sich aufgebaut hat. Es ist ein seltsamer Genuss, alles zerbröckeln, zerbröselnd, zusammenstürzend und schließlich eben fallend zu sehen. Sie wollen am Abgrund blutig aufschlagen und einfach wissen, dass es nicht schlimmer werden kann.

Tröstend, dieses Wissen, dass man nichts mehr zu verlieren hat. Zum ersten Mal fürchtet man sich nicht, weil es nichts mehr zu fürchten gibt. Nichts muss man noch tun, man ist ja ohnehin verdammt. Nichts braucht man mehr zu sein, weil man bei dieser Flucht vor der eigenen Existenz ohnehin alles hinter sich lassen musste – und du könntest es auch nicht mehr zurückholen, wie sehr du es dir auch wünschen möchtest.“

Luzifer verharrte wieder einen kurzen Moment, doch wartete er diesmal nicht auf eine Antwort. Dieser Moment war nur für ihn. Er hob seinen Blick und suchte in der ausdruckslosen Mimik seines Gegenübers irgendein Anzeichen von Verständnis, denn Mitgefühl ist meist ein Fremdwort für die loyalen Diener des obersten Penthouse-Bewohners. Das Universum kann sich dehnen und winden wie es möchte, dachte Luzifer, manche Dinge werden sich schlicht niemals ändern.

Aber da ist auch stets dieses wechselhafte Verlangen – manchmal flüstert es, manchmal ist es ein heiseres Gebrüll –, die Wahrheit doch wieder und immer wieder den Schuldigen und Mitwissern ins Gesicht zu schleudern.  „Genau darum gehen Menschen in die Hölle. Sie haben nicht gesündigt, sie sind nicht schlecht. Nur schreiten sie eben doch lieber durch jede Scheußlichkeit, als nur einmal, nur ein einziges Mal anzuerkennen, was sie wirklich sind. Diese Last zu schultern ist alles andere als ein Kindergeburtstag, das kannst du mir glauben. Für dich existiere ich nur als Bereitsteller eben dieser Qualen, nicht wahr? All dieser furchtbare Schmerz, der eben dieses Fallen ausmacht…“

Für einen kurzen Moment war es wieder still, vielleicht hatte er zu viel gesagt, der Engel blieb jedenfalls stumm. Sein gefallenes Gegenstück begutachtete wiederum das Marshmallow am Ende seines Stöckchens. Es war völlig verbrannt. Die Frage nach jeglicher Genießbarkeit stellte sich nicht einmal mehr für den Herrn der Fliegen. Seine gute Laune schien jedoch ihren Weg zurück gefunden zu haben, jedenfalls zeichnete sich ein schiefes Grinsen auf dem Gesicht ab, bei dessen Anblick schon so viele Seelen in völlige Verzweiflung abgetaucht sind.

„Nun sei der brave Schoßhund, der du nun mal bist und schon immer warst – spreize deine unschuldig-weißen Flügel, nehme sogleich den feurigen Engelsspeer zwischen die dürren Beine und mache dem himmlischen Vater deine verdammte Meldung.“

Gabriels Lippen zogen sich zusammen wie einst die Meeresfluten über den Ägyptern. Der Teufel lächelte nur noch breiter.

„Petze.“

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