unweltlich

Die Stimme erheben

Die Europäische Union, wie wir sie kennen, scheint am Ende.

(c) Alice Donovan Rouse

„Die Stimme erheben“ ist ein Artikel unseres Gastautors Bene M.

Dass in schweren Zeiten irgendwie niemand mit irgendwem wirklich zusammenarbeiten will, wurde spätestens während der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 deutlich. Grenzen sollten kontrolliert, Zäune errichtet werden. Jeder gegen jeden und alle für sich. Der viel zitierte und diskutierte Brexit ist ein erster konkreter, sichtbarer Schritt weg vom Europa der Völker und zurück zum Europa der Nationen. Das wirklich Schlimme daran: Der Austritt der Briten aus der EU ist demokratisch legitimiert, eine von der Mehrheit der wählenden Bevölkerung gewünschte Abkehr des kontinentalen Zusammenrückens.  

Politik, Eu, Brexit
(c) Mihai Surdu

Die zwölf Sterne auf blauem Grund bröckeln. Weil das Fundament –  eben die Bewohner der vormals 28 Mitgliedsstaaten –  irgendwie nicht mehr will, unstabil geworden ist. Denn nicht nur im Vereinten Königreich, sondern überall auf dem Kontinent macht sich ein immer hemmungsloser werdender Ärger gegenüber denen „da in Brüssel“ breit – von Griechenland im Süden bis Finnland im Norden, von Portugal im Westen bis Bulgarien im Osten.

Die Bevölkerung fühlt sich oft missverstanden. Es geht die Angst um.  Die Angst, dass weniger für den Einzelnen übrig bleibt, wenn man gemeinsam etwas anpackt. Die Angst, nicht mehr frei zu sein.

In der rhetorischen Tradition der Despoten 

Und wie immer, wenn sich Angst breit macht, gibt es solche, die sich an dieser laben – sie schüren, um selbst noch fetter zu werden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es Diktatoren, welche sich die Ratlosigkeit und Sorgen der Menschen nach dem Ersten Weltkrieg und den großen Wirtschaftskrisen zu Nutze machten. Heute sind es die sogenannten Populisten, die die Zweifel – in der rhetorischen Tradition der Despoten, die Europa und die Welt brennen sehen wollten – von Herrn und Frau Europäer schamlos ausnutzen, um ihr Ziel zu erreichen: Macht.

Ob Viktor Orban, Heinz-Christian Strache, Geert Wilders, Frauke Petry oder Marine Le Pen: Sie alle wollen die EU unaufhaltsam vor sich her und gleichzeitig in Richtung Abgrund treiben. Was kann die Europäische Union, was können die Europäer, die an diesen Staatenbund glauben und auf den sie ihre Zukunft aufbauen wollen, tun? Wie kann dieses Auseinanderdriften abgebremst, gestoppt oder umgekehrt werden?

Eingeschränkte Freiheit und andere Lügen 

Der Brexit zeigt: Hätten die Menschen, die ein Vereintes Königreich in der EU einem Abspalten vorziehen, sich die Mühe des Urnengangs angetan, wäre Großbritannien gerade nicht dabei, sich auf den Austritt vorzubereiten. Europas größtes Problem sind nicht ein aufgeblasener bürokratischer Apparat, sinnlose Gesetzestexte oder eingeschränkte Freiheit – wie es die Johnsons und Salvinis allen weismachen wollen – im Gegenteil. Im Verhältnis der zur vertretenden Bevölkerungszahl hat die EU weltweit einen der schlanksten Verwaltungsapparate. Über 70 Prozent der nationalen Gesetzgebung basiert auf Brüsseler Vorgaben, was zu einer Standardisierung in vielen Bereichen führt und sowohl die Wirtschaft als auch andere zentrale Agenden wie Forschung einfacher und effektiver arbeiten lässt. Wer zudem weniger als 20 Jahre zurückdenkt, in die Zeit vor dem Fall der Schengen-Grenzen, wird unweigerlich zugeben müssen, dass früher nicht mehr Freiheit herrschte.

Natürlich hat die EU, das lässt sich nicht leugnen, das ein oder andere Handicap vorzuweisen  – struktureller Natur oder in der Kommunikation nach außen.

Aber nur der, der ohne Tadel ist, soll mit Anschuldigen um sich werfen.

In Anbetracht dessen, dass die Europäische Union, historisch gesehen, eine recht junge Institution ist, macht sie ihre Sache gut.

Sie wandelt sich stetig, ist keine in Beton gegossene Einrichtung, die sich jedweder Veränderung entzieht. Selbstverständlich scheitern auf der Ebene der supranationalen Organisation EU immer wieder Projekte und Pläne. Aber die verantwortlichen Politiker und Verwalter ziehen daraus meist ihre Lehren – und machen es beim nächsten Mal besser. Im Vergleich zu den wirklich alteingesessenen Global Playern – etwa der katholischen Kirche – ist Brüssel nahezu reform- und anpassungswütig. Die römisch-katholische Schaltzentrale in Rom gibt es nämlich schon seit fast 2000 Jahren. Aus gravierenden Fehlern hat man dort nur wenig lernen wollen und noch weniger Konsequenzen gezogen.

Lauter sein 

Was fehlt der Europäischen Union also? Wenn doch, zumindest rational betrachtet, eigentlich alles in Ordnung ist. Warum gewinnen Populisten und EU-Gegner offensichtlich immer mehr an Boden? Es fehlen jene überzeugten Europäer, die ihre Stimme erheben. Die mit ihren Worten versuchen, Unentschlossene vom europäischen Motto „In varietate concordia“, zu Deutsch „in Vielfalt vereint“, zu überzeugen. Europäer, die hinausgehen und sich für eine gemeinsame Zukunft einsetzen. Der Ruf nach Eintracht und Zusammenarbeit muss lauter sein als die Parolen von Trennung und Abschottung. Lauter als alle Straches und Le Pens zusammen. Nur so hat die EU – die zu einem großen Teil mit dafür verantwortlich ist, dass in Europa seit mehr als 70 Jahren kein Krieg mehr tobte – auch künftig eine Chance.

Politik, Eu, Protest
(c) Alyssa Kibiloski

 

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