unerlebt

Von der Jagd auf das weiße Kaninchen

oder: zeitlos in Tirol

Schneemann(c) Jules

 

(c) Lukas Blazek

„Na? Schneemann bauen?“ Ich war neulich unterwegs zur Arbeit, stocherte im Vorübergehen im Pulverbelag auf der Mauer und hatte den Mann im Overall gar nicht bemerkt, der die Straße fegte. Er lächelte und deutete mit seinen Händen einen Schneeball an. „Naja, bestenfalls auf dem Weg…“ antwortete ich ebenfalls lächelnd und nahm einen Schneebatzen zwischen die Finger. „Ahh…keine Lust“, konstatierte der Mann. „Naja Lust schon“, gab ich im Vorübergehen zurück und zuckte die Achseln, „aber keine Zeit!“ „Wie traurig,“ meinte der Straßenarbeiter ernst, „schmeiß die Uhr weg!“ rief er mir nach, als ich schon vorbei war. Ich grinste und verschwand ums Straßeneck. Tzz, „schmeiß die Uhr weg“….

…naja, so unrecht hat er eigentlich nicht, dachte ich bei mir. Das Schneekügelchen schmolz zwischen meinen Fingern, als wollte es mich schleunigst loswerden – egal in welchem Aggregatzustand. Und wie ich Lust gehabt hätte, mich einfach in den Schnee zu hauen, wie früher als Kind. Kaum hatte es geschneit, war man auch schon draußen. Üppig bestiefelt und doppelt bemützt (je nach Ausprägung des mütterlichen Fürsorge-Gens) jolte man durch die Gegend, rieb das nächstbeste Kind bzw. Geschwisterchen mit Schnee ein oder schluckte selbst eine gewaltige Portion – weißen, nicht gelben, wir waren ja nicht bescheuert.

Kinder im Schnee
(c) Michal Janek

Heute hasten wir stattdessen durch die weiße Pracht als gäbe es kein Morgen: da Termin, dort Termin, arbeiten, Freunde treffen, Pub-Abstecher, einkaufen, Bus fahren, Sport machen, to do Listen checken, wegwerfen, neue machen.

„Ich hab keine Zeit!“, schnellt es als geflügeltes Wort durch Luft, Gedanken, Lippen. Arbeitsstress. Schulstress. Freizeitstress. Die Zeitlosigkeit scheint eine Zivilisationskrankheit. Dabei ist es hirnrissig: Dieses Ding, das uns Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft taktet, unser Leben einteilt, ist ein Konstrukt – und verändert sich dummerweise grade nicht zu unserem Vorteil. „Tag und Nacht“, wie eine Werbung so treffend beschreibt, sind heute tatsächlich „nicht mehr als ein Vorschlag“, ebenso wenig wie Sonntage noch Ruhetage oder Feiertage wirklich Feiertage sind…

ja nicht mal Mittagspausen sind noch Mittagspausen

– der Nachbar im Büro, der täglich mit der Semmel zwischen den Zähnen in seine Tasten haut und feierabends über Verdauungsprobleme jammert, ist das beste Beispiel. Alles ist wichtig, alles muss gleich geschehen, gut laufen und vor allem synchron passieren. Während wir zuhören, schielen wir aufs Smartphone, haben Busanzeigen und Parklücken im Augenwinkel, denken schon an die nächsten Erledigungen und führen Small-Talk mit halbem  Ohr, dem vollkommen entgeht, dass das „alles klar bei mir“ des Gegenübers überhaupt nicht klingt wie „alles klar bei mir“.

(c) Viktor Kern

Es wird Morgen, Abend, Morgen, Abend – meistens ohne, dass wir je bewusst inne halten, durchatmen, Entscheidungen liegen lassen, bis das Bauchgefühl sich meldet und uns Fehlentscheidungen erspart, oder einfach mal nichts tun. Ohne Luft laufen wir wie irre durchs Leben, dem Glück und tausend Nichtigkeiten hinterher, jagen ein weißes Kaninchen mit seiner goldenen Uhr, schauen nicht links, nicht rechts.

Aber hin und wieder gibt es Momente – Lücken in der Endlosschleife, wo wir unsere Aufmerksamkeit mal keinem Gerät widmen, keinem Plan, keiner Verpflichtung, sondern einfach nur wir selbst sind: beim Sport, in der Natur, am Morgen allein mit der Kaffeetasse oder unterwegs mit Freunden, mit dem Partner – eine Zeit, in der wir nicht auf die Uhr sehen, und da erst merken, wie befreiend das sein kann. Das klingt, wie der banale Inhalt einer Jogy-Werbung, ist aber das Natürlichste und gleichzeitig Schwierigste überhaupt…

(c) freestocks.org

In solchen Momenten flüchtet die Zeit nicht vor uns, weil wir ihr nicht hinterherrennen – im Gegenteil, sie scheint in Zeitlupe zu laufen und plötzlich verfügbar zu sein für das, was wirklich wichtig ist: Menschen, Freude, Pausen, Leben…vielleicht sogar für einen Schneemann. Zwischendurch wieder etwas „Kind“ sein, zwischendurch „die Uhr wegwerfen“ – vielleicht wäre das gar keine schlechte Lösung, vor allem aber wäre es eine zeitlose…

(c) Annie Spratt

Passend dazu, zum Reinhören: Blumentopf_Keine Zeit

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