„Wir müssen wieder schauen lernen“
Die Kunst der entschleunigten Wahrnehmung - ein Künstlergespräch mit Helmut Ortner
Helmut Ortner ist Kunsthistoriker, Bühnenbildner, Buchfetischist, Maler, Zeichner und Schreiber. Im Interview mit komplex spricht der gebürtige Osttiroler Künstler über die Inspiration entschleunigter Wahrnehmung, den prägenden Einfluss von Literatur und Schrift und die mystische Komponente in seiner Kunst.
Von Sara Oberthaler
WIE HAST DU ZUR KUNST GEFUNDEN? ODER HAT DIE KUNST ETWA GAR DICH GEFUNDEN?
Wenn man im Nachhinein über gewisse Entscheidungen im Leben nachdenkt, findet man manchmal selbst keine Antworten – irgendwie ist es einfach passiert (lacht). Mein Interesse für Kunst hat sich erst mit ca. Anfang 20 entwickelt. Ich bin weder in einem kunstaffinen Umfeld aufgewachsen, noch hatte ich ein bestimmtes Schlüsselerlebnis, das den Drang zum Malen auslöste. Warum Kunst plötzlich in mein Leben getreten ist, kann ich nicht beantworten. Jedoch wuchs das Kunstinteresse kontinuierlich – nicht zuletzt durch mein Studium der Kusntgeschichte – und allmählich wurde Kunst zum bestimmenden Element in meinem Leben.
WOHER NIMMST DU DEINE INSPIRATION? WAS BEEINFLUSST DICH UND DEINE KÜNSTLERISCHE ARBEIT?
Die Quellen sind ungeheuer vielfältig und mir selbst nicht immer bewusst. Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Bilderflut, die über jeden Einzelnen von uns hereinströmt, gigantische Ausmaße erreicht hat. Durch diese rasante Bilder-Überflutung ist es notwendig geworden, eine Art Filter im Kopf aufzubauen, um zu einer entschleunigten Wahrnehmung zurückzufinden. Man muss wieder Schauen lernen, um Gesehenes bewusst wahrnehmen und es anschließend geistig verarbeiten zu können. So basieren viele meiner Werke auf Beobachtung, seien es nun reale Menschen, Begebenheiten, mediale Abbildungen in all ihrer Vielfalt oder Kunstwerke – wenn man es zulässt, ist der Fundus unerschöpflich. Ein weiterer großer Bildideen-Lieferant ist die Literatur. Bücher und ich haben eine regelrechte Suchtbeziehung. Beim Lesen entstehen Bilder im Kopf, Ideen werden geboren, die ich dann künstlerisch umsetze.
LITERATUR UND SCHRIFT NEHMEN IN DEINEN WERKEN AUCH VISUELL EINE PRÄGENDE ROLLE EIN. WELCHEN AUTOREN BIST DU BESONDERS ZUGENEIGT UND WARUM?
Von Anfang an findet sich Schrift in meinen Bildern. Früher waren es eher verschwommene, unleserliche Textfragmente als Teil des Bildes, heute verstehe ich sie als gleichgewichtigen Teil zur Malerei. Inzwischen entstehen auch Bilder, die aus reiner Schrift bestehen. Schriftsituationen stellen einen zentralen Moment in meiner Arbeit dar. Sie werden von mir langwierig manuell mit Stahlfeder und verdünnter Acrylfarbe geschrieben und sind horizontal, vertikal oder in einem matrixartigen Wortgeflecht verfasst. Konzeptuell basieren die Arbeiten auf literarischen und philosophischen Texten von Autoren, mit denen ich mich intensiv beschäftige, wie etwa Rainer Maria Rilke, Friedrich Torberg oder Georg Trakl. Mit „Lyrische Momente“ entstand heuer in einem mehrmonatigen Zeitraum ein 24-teiliger Zyklus der nur aus Handschrift besteht – Schrift wird im wahrsten Sinne des Wortes zum Bild. Weiters beschäftige ich mich gerne mit großen, zeitlosen Thematiken des Menschseins, wobei Literatur als Ausgangspunkt fungiert. So arbeite ich seit zwei Jahren an einem großen Ikarus- und Varus-Zyklus, denen Größenwahn, Hybris und der Mensch als Spielball von Mächten zugrunde liegen.
GIBT ES ABGESEHEN VON DER MALEREI NOCH ANDERE KUNSTFORMEN, DENEN DU DICH WIDMEST?
Primär war ich von Anfang an ein Bilder-Maler und bin es immer noch. Allerdings habe ich in den letzten Jahren auch das kleine Format schätzen und lieben gelernt. Das heißt, dass ich neben den Bildern vermehrt Arbeiten auf Papier geschaffen habe, die zwar malerische Elemente in sich tragen, im Grunde aber graphisch überlagerte Zeichnungen sind. Des Weiteren verwende ich seit drei Jahren alte Bücher als Bildträger. Meine Obsession für Bücher impliziert für mich die beinahe logische Konsequenz, Buchdeckel ihrem eigentlichen Zweck zu entfremden und sie zu Bildträgern zu kontextualisieren. Alte Bücher werden auf Dachböden aufgestöbert, aus Altpapiercontainern gerettet oder auf Flohmärkten erworben, um ihnen, meist ihrer Hülle, eine neue Existenz als Kunstwerk zu geben. Durch den Einsatz unterschiedlicher Materialien wie Acrylfarbe, Zündhölzer, alte Spielkarten, Transparentpapier, Buchseiten,… entwickeln sich collagenartige Frequenzen.
GIBT ES AUCH BEIM MALEN SO ETWAS WIE EINE „KÜNSTLERBLOCKADE“?
Natürlich, wie bei jedem kreativen Beruf. Von größeren Blockaden wurde ich bis jetzt aber verschont. Da ich aber täglich an meiner Kunst arbeite und man natürlich tagesabhängig kreativen Schwankungen unterworfen ist, nutze ich solche Zeiten für Bildhintergründe oder Schreibarbeiten, also Arbeiten die ein hohes Maß an Handwerk und Konzentration erfordern. Ansonsten ist das Lesen eines guten Buches ein gutes Rezept gegen kreative Blockaden.
HAT SICH DEIN STIL IM LAUFE DEINER KÜNSTLERISCHEN TÄTIGKEIT GEWANDELT?
Natürlich ist mein Stil einem Wandel unterworfen, was nicht nur wichtig, sondern beinahe existenziell ist. Abgesehen davon, dass sich das handwerkliche Können stets weiterentwickelt und man dadurch freier und uneingeschränkter arbeiten kann, ist man als kreativer Mensch ein ständig Suchender. Persönliche Sichtweisen, Denkvorgänge, Sehgewohnheiten und Ansichten entwickeln sich permanent – es darf keinen Stillstand geben. Daher bin ich als Mensch und als Künstler stetig dabei, zu experimentieren, neugierig zu bleiben und zu suchen, was sich in meinen Werken natürlich auch widerspiegelt.
HAST DU ZU EINIGEN DEINER WERKE EINEN GANZ BESONDEREN BEZUG?
Grundsätzlich steht man als Künstler zu allen selbst geschaffenen Bildern, man verbringt mit ihnen ja eine oft wochenlange, intensive Entstehungszeit. Manche machen es einem leichter, bei anderen ist es ein harter Kampf bis zur Fertigstellung. An die Öffentlichkeit gelangen nur Werke, die meinen selbst auferlegten Parametern standhalten. Die anderen bleiben im Atelier, dürfen ruhen, werden wieder überarbeitet,… dieser Prozess kann Jahre dauern, bis sie das Atelier verlassen dürfen. Im Grunde könnte man das ganze Leben an einem Bild arbeiten. Und ja, es gibt einige Werke zu denen ich aus verschiedensten Gründen einen ganz besonderen Bezug habe. Diese bleiben bei mir, sind unverkäuflich und werden auch nicht öffentlich gezeigt.
WÜRDEST DU SAGEN, DASS DEINER KUNST – IM SINNE DES KOMPLEX-THEMAS – ETWAS UNHEIMLICHES INNEWOHNT?
Man sagt mir immer wieder, dass vielen meiner Werke etwas Unheimliches anhaftet, ein Umstand, der mir keineswegs etwas ausmacht, den ich persönlich aber nie ganz verstanden habe. Dieses Empfinden vieler Betrachter hängt wahrscheinlich mit gewissen Thematiken zusammen, mit denen ich mich beschäftige und die viele grundsätzlich als unangenehm empfinden, wie etwa Vergänglichkeit oder Tod. Ein absolutes Lieblingsmotiv ist der Kopf, realistisch, abstrahiert, deformiert, angedeutet oder gesichtslos. Totenschädel oder Köpfe die an diese erinnern, haben mich ob ihres inhaltlichen als auch ästhetischen „Wertes“ schon immer fasziniert. Für viele ist ein Totenkopf abschreckend und unheimlich, für mich aber mystisch, ästhetisch, anregend. Meine Kunst beinhaltet für mich weniger ein unheimliches als ein mystisches Element. Dass viele diesbezüglich keinen Unterschied mehr machen, liegt wahrscheinlich an unserer schnelllebigen, abgestumpften Zeit, in der Mystik immer weniger Platz findet…was ich sehr schade finde.
Mehr #unheimliches unter: www.komplex-kulturmagazin.com