Durch Begreifen sehen lernen
warum Chemie helfen kann, nicht zum intoleranten, ängstlichen Biocomputer zu werden
Bernhard: Pragmatiker, Reisender, Schwertkämpfer, Feuerwerksbauer, bakkalaureierter Chemiker – und seit Geburt an blind. Im Gespräch mit unhappy us erzählt der 38-jährige Saalfeldner von möglichen Unmöglichkeiten, von Märchen für Erwachsenen, vom Glück im Kopf und der Faszination, die Welt in ihren Grundbausteinen buchstäblich begreifen zu können.
Wenn du dich einer fremden Person beschreiben müsstest, was würdest du sagen?
Ich bin jemand, der immer schon den Dingen auf den Grund gehen wollte, daher Chemie. Sonst bin ich sehr sportlich, mache mit Kollegen gerne Tai Chi und Katana-Schwerttraining – also mit so einem Plastik-Ding. Da haben wir eine eigene Technik entwickelt. Ich wandere und reise gerne, meist in der Gruppe. Vor ein paar Jahren war ich in Südindien. Peru ist leider ins Wasser gefallen, das möchte ich noch nachholen. Was ich hingegen nicht mag, sind Lügen oder Menschen, die anderen gegenüber intolerant sind. Für mich ist die Welt ein weites offenes Feld und jeder Standpunkt hat seine Berechtigung.
Du bist von Geburt an blind, was hat dazu geführt?
Ich war ein Frühchen in sehr kritischem Zustand. Zu viel Sauerstoff im Brutkasten – damals war nämlich ein hoher Sauerstoffgehalt üblich – hat eine Netzhautablösung verursacht.
Trotzdem bist du heute sehr selbstständig und wohnst in deiner eigenen Wohnung im Blindenzentrum (Bild links)…
Ja, das meiste mache ich selbst, aber: Alles, was ich im Alltag mache, muss ich vorbereiten und genau überlegen. Jeder andere schaut einfach nur hin, bevor er was macht. Um mich zu orientieren, habe ich mein Raumempfinden – das hat jeder Blinde. Ansonsten habe ich z.B. ein Handy mit einem Programm, das mir alles ansagen kann. Für den PC gibt es spezielle Bildschirmleseprogramme. Diese funktionieren einerseits über Sprachausgabe – dafür muss man die hohe Sprechgeschwindigkeit allerdings gewöhnt sein [lacht] – und andererseits über die Braille-Zeile, also über die Blindenschrift.
Die Braille-Zeile: Auf Federn gelagerte, bewegliche Magnetstifte formieren sich je nach Text und geben die Texte in Braille-Schrift wieder. So werden sie für Blinde les- bzw. ertastbar.
Es gibt auch Tastenbefehle, mit denen man über die Seiten navigieren kann. Mails oder dergleichen sind also kein Problem. Aber naturwissenschaftliche Texte mit Formeln funktionieren noch nicht so gut.
Formeln ist mein Stichwort. Wie bist du eigentlich auf Chemie gekommen?
Mich hat Chemie seit meinem 6. Lebensjahr interessiert. Meine Schwester musste mir aus ihrem Chemiebuch vorlesen. Das ging ihr natürlich total auf die Nerven [lacht]. Später hab ich auch mit dem Badeschaum von der Mama rumexperimentiert und zu Silvester meine ersten Knallerbsen gekriegt. Darauf folgte dann eh schon mein erster Chemiebaukasten.
Also hat man dein Interesse zu Hause gefördert…
Ja, ich bin von Anfang an sehr gefördert worden und hatte auch immer sehende Freunde, die zusammen mit mir experimentiert haben. Mit 15 hatte ich meine pyrotechnische Phase. Das war eine sehr gefährliche Zeit. Ich habe damals schöne Feuerwerksraketen gebaut, aber auch mit Böllern und Zündern herumexperimentiert.
Dafür hatte ich mir alle Chemikalien in Blindenschrift angeschrieben und hatte gleich mehrere Chemiebaukästen, samt feuerfester Unterlage und Spiritusbrenner auf dem Schreibtisch. Ich wusste genau wo was im Kinderzimmer stand. Das war keine einfache Zeit für meine Eltern. Tatsächlich hatte ich oft mehr Glück als Verstand und dafür bin ich froh. Für mich war aber immer klar, dass ich Chemie studieren will und hatte im Gymnasium auch einen guten Lehrer.
Warum, glaubst du, scheuen viele Schüler das Fach und was begeistert dich so?
Meiner Meinung nach ist das Grundproblem einfach die Vermittlung. Unsere Lehrpläne sind darauf ausgerichtet abgerichtete Duckmäuser zu erziehen, denen man alles einreden kann. Chemie ist eigentlich selbstständiges Denken. Wenn ich wissen will, wie die Welt aufgebaut ist, muss ich selbst denken. Leider Gottes geht aber die Vermittlung eher Richtung auswendig lernen. Dabei ist Chemie seit jeher handwerklich und die Grundlage unseres modernen Lebens. Zudem hat jede Stoffumwandlung was Wesenhaftes, dass dich zum Staunen bringt: egal ob Farben, Geruch, Feuerwerke oder Prozesse in Organismen.
Wie hast du die Praktika während des Studiums gemeistert, was gab es für Herausforderungen?
Grade bei Messungen sind die Geräte oft nicht adaptiert, also ohne Assistenten geht’s nicht. Das gilt auch für den Umgang mit gefährlichen Chemikalien. Trotzdem hab ich viele Praktika gemacht. Ich hatte immer einen Tutor und einen Assistenten. Der Tutor hat die Laborhandgriffe übernommen, wobei ich vieles auch selbst machen konnte.
Das Wichtigste ist dabei die Vorbereitung. Am 1. Tag jedes Praktikums hab ich alle Schubladen zwei Mal aus-und wieder eingeräumt, sodass ich genau gewusst hab, wo sich was befindet. Dann haben wir uns die Chemikalien in Blindenschrift angeschrieben und die Experimente im Lehrbuch durchgesprochen. Während dem Praktikum haben mir die Assistenten die Vorgänge beschrieben, z.B. Farbveränderungen. „Farbe“ sehe ich pragmatisch, aber ich muss wissen, wie sie sich verändert. Ich muss ja meinen Assistenten sagen können, was sie machen sollen und welche Fehlermöglichkeiten da sind. Das hat gut funktioniert.
Du hast 1998 mit dem Studium begonnen und 2016 abgeschlossen. Wie schwierig war der Weg?
Mein Studium war schon ein extremer Kampf. 90 % der Professoren waren super, aber es hat auch die einen oder anderen geben, die nicht super waren. Die hab ich umschiffen müssen. Vor allem die Einstellung war oft problematisch. Manche Leute, auch Blinde, haben mein Studium belächelt. Da spielen auch Faktoren wie Neid eine Rolle.
Was hat dir trotz der Hindernisse und Einwände den Mut gegeben, weiterzumachen?
Ein Jahr vor meiner Matura wurde meine Mutter zum Pflegefall. Sie hat mich immer unterstützt, das ist eine sehr treibende Kraft. Außerdem: Wenn ich meinen Traum nicht verwirklicht hätte, hätte ich meine Selbstachtung nicht mehr haben können. Tatsächlich ist sehr viel mehr möglich. Du musst ja nicht im Labor stehen und alles machen. Wenn du als Blinder heute sowas studierst, dann ist es deine Aufgabe dir eine Nische zu suchen, wo du die Sachen machen kannst, die gehen. Wenn ich mich allerdings nicht seit meinem 6. Lebensjahr für Chemie interessiert hätte, hätte ich das Studium vermutlich bis heute nicht beendet.
Heute kämpfen ja oft schon junge Menschen ohne Sehbehinderung mit Zukunftsängsten. Wie steht es mit dir, hast du manchmal Angst vor der Zukunft?
Da könnte man jetzt diskutieren, ob Angst absichtlich von den Herrschenden provoziert wird. Nur dann wenn Leute ständig Angst haben müssen, haben sie keine Zeit Dinge zu hinterfragen. Wir leben in einer Zeit des Doppelsprechs, wo man einerseits von Zivilcourage und selbstständigem Denken redet, aber zugleich einen irrsinnigen Druck aufbaut, der den Menschen keine Zeit mehr für ihre Entwicklung lässt.
Ich weiß, dass dieses System an vielen Stellen so gewollt ist. Daher kann ich drüber lachen und brauche mir nicht mehr die Frage stellen: „Schaffe ich das?“. Ich weiß um meine Fähigkeiten, worauf ich stolz sein kann. So kann mir nichts mehr passieren. Man muss halt schauen, dass man finanziell so abgesichert ist, dass man halbwegs in dem System leben kann.
Angst haben ist also sinnlos?
Ja. Die Kriegsgefahr ist zwar gerade immens, da kann man natürlich Angst haben. Wirkliche geistige Reife heißt aber, mit sich in Frieden zu kommen. Wenn was passiert und ich sterbe heute, dann ist es so. Dann muss ich halt jeden Tag so gelebt haben, als wäre es mein letzter. Das ist das Wichtigste. Angst hat jeder sowieso irgendwann. Ängsten muss man sich ganz pragmatisch stellen.
Viele suchen das große Glück. Welche „Chemie“ steckt für dich dahinter, was bedeutet Glück für dich?
Ich hab viel Erfahrung mit Meditation und hab schon schamanische Zeremonien mitgemacht. Dein Glück liegt in dir selbst. Es ist einfach so. Wir leben heute in einer Zeit, wo dir Verantwortlichkeiten aufgedrückt werden, die man nicht tragen kann. Mit 25 sollst du schon dies und das haben. Zum Glück gibt’s heute eine junge Generation, die sagt: Ich will nicht mehr, ihr könnt mich mal. Wenn die Leute das System begreifen und sich nicht mehr schubladisieren lassen, haben wir eine Chance, dass sich was konstruktiv entwickelt.
Die Frage ist: Wie geht man als Einzelner mit seinem Leben um. Ich bin der Meinung, wenn ich halbwegs im Reinen mit mir bin, dann ist es schwierig mich aus der Bahn zu werfen. Sicher hat jeder seine Herausforderungen, aber man hat immer die Wahl, wie man was angeht. Der eigene Geisteszustand ist das Wichtigste. Man sollte sich nicht zu einem Biocomputer degenerieren lassen. Wir sind Menschen.
Wie wird es nun nach dem Abschluss weitergehen für dich?
Ich werde ab Oktober im Rahmen einer Lehrkooperation eine Vorlesung halten, mit dem Titel „Sehen durch Begreifen“. Dabei geht’s um die Rolle von begreifbaren 3D-Modellen in den Naturwissenschaften. Modelle sind für mich wie „Märchen für Erwachsene“. Die Leute glauben immer, sie erzählen so etwas wie eine Geschichte.
Ich möchte vermitteln, dass alle Modelle – auch wenn sie noch so schlau klingen – nur Modelle sind, die uns im besten Fall helfen können, einem gewissen Aspekt der Welt näher zu kommen, aber nie absolut sind. Nebenher mache ich den Master und nächstes Jahr habe ich mit meinen Assistenten auch vor, ein Start-up Unternehmen zu gründen: für die Herstellung von Speziallaborbedarf mittels 3D-Druck. Sowas wurde in Österreich noch nicht etabliert.
Nun folgen noch unsere berühmten drei Fragen:
- Wann hast du das letzte Mal etwas zum 1. Mal gemacht?
Ich sammle alte Chemiebaukästen. Die hab ich jetzt aussortiert und mich zurückversetzt in früheren Zeiten.
- Einmal und nie wieder?
Ich würde alles wieder so machen.
- Du könntest eine Sache in deinem Leben ändern – was wäre das?
Im Nachhinein wüsste man, wie es beim Studium schneller gehen hätte können. Im Prinzip würde ich aber alles nochmal so machen.
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