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Feste Beziehung? Jein, danke.

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„Beziehung? Jein, danke. “ ist ein Artikel unserer Gastautorin Jasmin R.

Hach, Jugend. Hach, Leichtigkeit. Wer erinnert sich nicht gern daran, als im Teenager-Alter die ersten Versuche sich abzukapseln begonnen hatten. Sehr zum Leid des nicht-pubertierenden Umfelds schlugen sich diese jugendlich leichtsinnigen Versuche auch optisch nieder. Die Mädchen haben die ersten Schminkübungen unternommen, die Jungs experimentierten mit Haargel.

Und so wie jedes Jahrzehnt hatten auch die Neunziger ihre Fashion-Fails:

man kleidete sich in Plateau Buffallo Boots und Helly Hansen Daunenjacken.

Wir waren alle irgendwie dabei. Immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. Per Anruf mit der Clique verabredet, ins Superheldenkostüm geschlüpft und los. Heimlich haben wir uns auf Parties geschlichen und niemals vor Sonnenaufgang wieder nach Hause. Meistens mit dem aktuellen „neuen Schwarm“ im Visier. Bloß nichts verpassen. Es galt, möglichst draufgängerische Geschichten zu erleben. Ganz Mutige wurden beim Klauen in Drogeriemärkten erwischt und heimlich Rauchen war noch irgendwie „in“.

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(c) Stas Svechnikov

Die BRAVO war nicht mehr nötig, denn jetzt wurden eigene Erfahrungen gemacht und persönlich ausgetauscht. Gerade mal so aus der ‚wenn ich mal groß bin, …’ Phase rausgewachsen fühlten wir uns sehr erhaben über alles. Wir arbeiteten für Aushilfslohn in Bars, Cafés oder Kinos und brauchten auch nicht mehr. Morgens kamen wir wahlweise zu spät oder einfach total unmotiviert in die Schule. Wir haben uns maximal selbst erzogen und sind Autoritäten stets kampfbereit begegnet.

Dabei waren wir so abhängig: von Eltern, Linienbussen, Mitschülern, Taschengeld und Telefonzellen.

Wir wussten natürlich, dass wir irgendwann erwachsen werden sollten. Aber wir waren Peter Pans. Wir lebten in der Gegenwart und stellten uns mit Hilfe von bewusstseinserweiternden Substanzen die vierte Dimension und das Universum vor.

Woran wir trotzdem immer alle geglaubt haben ist, dass unser gerade beginnendes Liebesleben sich irgendwann entspannen würde. Dass das Verliebtsein einen nicht mehr so verwirren würde, wenn man ‚erwachsen’ ist. Dass keine 3-Tages-Regel mehr gälte, wenn man anrufen will und, dass der neue Schwarm nicht mehr der Angelpunkt unseres Ausgehverhaltens am Wochenende wäre. Wir haben geglaubt, diese Rastlosigkeit verschwände einmal und man würde sich irgendwie gefestigt fühlen. MISSION FAILED.

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(c) Fabien Barral

Das einzige, was sich in dieser Hinsicht verändert hat ist, dass man nicht mehr auf Anrufe wartet, sondern auf Kurznachrichten. Oder noch schlimmer: auf Emoticons. Zumindest an der Front der in die Dreißiger gekommenen Großstadt-Singles. Wobei diese Sache mit dem neuen Schwarm ehrlich gesagt schon in den Zwanzigern als Never Ending Story anmutete… Aber in diesem Alterssegment durfte sich alles gerade noch ein bisschen zu jung und leichtsinnig anfühlen. Die Koketterie und Abenteuerlust musste doch irgendwann einem Sicherheitsbedürfnis und Verlangen nach Sesshaftigkeit weichen! Leider hat die Aufnahme in den ü30 Club keine nennenswerte Veränderung gebracht. Denn, das hätte ja bedeutet, dass man nicht nur auf sich selbst, sondern aufeinander Acht gibt. Dass man sich Zeit nimmt, um Intimitäten auszubauen. Dass man das Abendessen miteinander abstimmt, sich nicht mehr so viel umguckt und gemütlich wird. Womöglich könnte das Ganze in Monogamie und Treue enden. Pöh! So viele Pflichten. Wer braucht das schon?

„HELLO. PLANET EARTH CALLING.“

Tatsächlich ist es in einer Stadt wie Berlin sehr schwierig, sich nicht zuallererst krampfhaft selbst verwirklichen zu wollen. Das macht es nicht wahrscheinlicher in eine ernstzunehmende Beziehung zu geraten. Insbesondere für die vielen Sklaven der Medienbranche. Wenn man beruflich gerade aus der Junior-Position raus gewachsen ist und nun endlich richtig Geld verdienen kann, müssen Zweisamkeit und Familienplanung hinten angestellt werden.

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(c) Antonina Bukowska

Die Hälfte des dann doch viel zu niedrigen Gehalts wird zwangsweise für überteuerte Mieten in überbewerteten Stadtteilen ausgegeben. Ein Viertel wird in Alkohol und wachmachende Substanzen verwandelt, damit man das alles aushält, und das übrige Viertel wird für ein bitter nötiges Sabbatical gespart.

Im Kampf um die Selbstverwirklichung ist man stets bemüht, sich selbst der Nächste zu sein.

Das Dasein als Single ist in diesem Kampf der Weg des geringsten Widerstands. Man hat neben dem Job und dem Social Life schließlich einfach keine Zeit mehr. Schon gar nicht für romantische Abendessen in der eigenen Küche.

Oder dafür, sich mit jemand anderem mehr zu beschäftigen, als mit sich selbst. Warum auch gemeinsam kochen, wenn man sich mit seinem MacBook in den shabby chic eingerichteten Burgerladen setzen kann, um seine Konzeptpräsentation feinzuschleifen und einen veganen Superfood Burger mit Seitan, Sprossen und Roter Beete zu bestellen.

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(c) unsplash

 

Das ist zeitsparend, gesund und ein Mittel gegen Einsamkeit. Denn man fühlt sich nie allein zwischen den ganzen aufgeweckten Start-Up Kreativen. Work-/Life-Balance war 2010, heute ist Effizienzsteigerung angesagt. Man hat beim Essen theoretisch jederzeit die Gelegenheit, sich über seine neuesten Projekte und den damit einhergehenden, irgendwie akzeptierten Stress und Schlafmangel auszutauschen. Man ist ja so busy. Meistens wird die Gelegenheit zum Austausch aber gar nicht genutzt. Stattdessen starrt man kauend auf sein Smartphone und scrollt sich durch die aktuellen Social Media Hypes.

Ob die Menschen im Zuge der Evolution irgendwann alle dicke Hornhautschichten an den Daumen haben?

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(c) Eaters Collective

Den superhealthy Superfood Burger kann man direkt auf Instagram posten und sein Statement setzen. Man kassiert Likes in Herzchenform und verwechselt das mit echter Liebe und Aufmerksamkeit. Und dann fällt einem ein, dass man hypothetisch betrachtet zufällig seinen Traumpartner in diesem Burger Bistro treffen könnte.

IN AN ABSOLUT WORLD.

In einer Stadt wie Berlin hat man nicht die Muße, sich ernsthaft jemandem zu hinzugeben. Hier werden in der Freizeit Hypnosetherapeuten wegen der Nikotinsucht besucht, Osteopathen wegen der Rückenschmerzen und Psychologen wegen des Burn Outs. Und dann tindert man gegen das Liebesdefizit an.

Im Grunde genommen wollen wir Berliner ü30 Singles natürlich alle ständig verliebt sein und Leichtigkeit versprühen.

Unaufwändig und unkompliziert soll es aber sein. Vor allem wollen wir in einen Spiegel schauen, in dem wir bestätigt werden. Da wir keine Zeit haben, uns darum zu kümmern oder zart aufkeimende Zuneigung intensiv zu pflegen, streben wir nach der Liebe aus dem Katalog. Seit einigen Jahren gibt es einen Katalog namens Tinder. Wobei Tinder hier synonym für andere Dating Apps steht und wie das Tempo Taschentuch zu einem geflügelten Wort geworden ist. Diese Apps sind das gefundene Fressen für uns Digital Natives, ein tolles Spielzeug mit dem wir immer wieder aufs Neue das Gefühl haben können, verknallt zu sein und im Gegenzug jemand verknallt in uns ist. Dafür müssen wir nicht mal aufhören, ständig am Smartphone zu kleben. Angeblich verliebt sich alle 11 Minuten ein Single über Parship. Kann sein. Bei Tinder verliebt er sich wahrscheinlich alle 11 Minuten in ein neues Profilbild und swiped rechts. Je nach Fasson kann man sich kurzfristig mit seinem Crush verabreden oder ohne Erklärung jederzeit aus dem Chat-Dialog verschwinden.

Es gibt keine Verpflichtungen.

Auf der Suche nach einer festen Beziehung ist niemand, der lange im Flirtkatalog blättert. Der erfahrene User ist schon überfordert mit der Einschränkung „Kein ONS!“ und befördert die zugehörigen Profile auf dem schnellsten Wege ins NOPE Nirwana. Bitte keinen serious shit.

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(c) Patrick Tomasso

Und bitte keine Entscheidung, bevor nicht alles ausprobiert wurde. Mehrfachdates und Warmhaltestrategien sind plötzlich anerkannt. Endlich darf man sich ohne schlechtes Gewissen dem Segen der großen Auswahl hingeben und ist einer dieser Singles, auf die unsere seltenen fest liierten Bekannten immer neidisch so sind.

Beziehungsunfähigkeit ist eine Attitüde geworden, mit der man sich hier gerne schmückt. Sie passt schließlich perfekt in unser Konzept, in dem wir alle viel zu beschäftigt und gefragt sind, um uns an irgendwas zu binden. Dabei könnten einem ja die unbegrenzten Möglichkeiten durch die Lappen gehen. Außerdem empfinden wir Liebe und Gegenliebe ausreichend bei unseren Freunden, wir bekommen Bestätigung in der Arbeit und können sowieso bestens für uns allein sorgen. Vor allem das Empfinden von Liebe ist auf neuronaler Ebene ein und derselbe Vorgang, egal ob man sie zu seinem Familienmitglied, zu Freunden oder zu einem Partner hegt.

Den besten Sex hat man zwar immer noch zu zweit (mindestens).

dafür lässt sich aber leicht eine Lösung herbei tindern. Oder man wählt sich aus dem Freundeskreis den einen ‚friend with benefits’. Wir brauchen heute also keinen Lebensabschnittspartner mehr und sind dennoch rundum ausgelastet. Theoretisch ein Zustand, der die totale Zufriedenheit auslöst – wenn wir ihn nur akzeptieren könnten.

Stattdessen zweifeln und hinterfragen wir permanent. Obwohl wir wissen, dass ein Kuss nichts weiter ist, als die Analyse einer Speichelprobe, durch die wir feststellen, ob der Küsser genetisch zu uns passt. Das Zeitalter von Google-Selbstdiagnosen, How-to-Videos und der Enttabuisierung von Psychotherapien hat uns alle nochmal anders aufgeklärt als zu Teenagerzeiten die BRAVO. Uns ist bewusst, dass die Fähigkeit, den anderen riechen zu können (oder eben nicht) ein rein chemischer Prozess ist, der der idealen Fortpflanzung dient und nichts mit Shakespeare-Romantik zu tun hat. Wir können bei Amazon Oxytocin-Nasensprays und Pheromon-Parfüms bestellen. Aber egal wie abgeklärt wir uns selbst darstellen, ein Relikt ist uns aus Teenagertagen geblieben:

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(c) Toa Heftiba

Der Glaube an die Liebe auf den ersten Blick.

Oder zumindest der Wunsch nach einem Märchen. Warum das so ist, kann uns auch Wikipedia nicht beantworten.

Fakt ist: Wir halten unser Single Leben nicht gut aus. Wir suchen heimlich Hintertürchen und haben die super effiziente Mingle-Beziehung erfunden, um ja nicht als romantisch oder abhängig zu gelten. Die optimale Plattform für uns ‚jein’ Sager. Falls aus Versehen doch mal jemand etwas mehr will, wird derjenige ‚geghostet’ und hat das gefälligst hinzunehmen. Das 21. Jahrhundert hat seinen ganz eigenen Liebesknigge. Liebeskummer schieben wir auf unser gekränktes Ego und nicht auf das Herz, wo er eigentlich hingehört. Und so zerreißt uns dieses unLIEBsame Thema genauso wie damals, auch wenn wir es nicht mehr zugeben. Heute sind wir abhängig von Arbeitgebern, Taxis, Social Media und Wohntrends. Die Peter Pans der 90er sind in die Generation Y mutiert. Ansonsten hat sich nicht so viel verändert.

 

 

„Beziehung? Jein, danke. “ ist ein Artikel unserer Gastautorin Jasmin R.

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